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Lena mittendrin
Landshut, Oktober 2018. Lena kam zu früh zur Welt, sehr zart, wunderschön, voller Lebensdurst und mit einer Cerebralparese. Diese Bewegungsbehinderung kann entstehen, wenn das Gehirn eines Kindes vor der Geburt nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte Lena vor allem im Krankenhaus; bis sie zweieinhalb war, konnte sie nur liegen. In der Kita Sonneninsel fand Lena, buchstäblich, auf die Beine – dank intensiver Förderung und der barrierefreien Gestaltung der Kindertageseinrichtung. In der Sonneninsel werden Kinder mit und ohne Behinderung bzw. erhöhtem Förderbedarf gemeinsam betreut. Heute ist Lena sechs; nächstes Jahr wird sie in die Schule gehen. Wir haben die Sonneninsel besucht, Lena begleitet und mit ihrer Mutter Nadine gesprochen.
Über Nadine und Lena R.
Nadine R.s sechsjährige Tochter Lena ist wegen einer Gehbehinderung auf einen Rollator bzw. Rollstuhl angewiesen. Seit sie zweieinhalb ist, besucht Lena die Kita Sonneninsel. Von der barrierefreien Haltung und Gestaltung der Sonneninsel sind Mutter und Tochter begeistert.
Unsere Meinung
„Barrierefreiheit bedeutet für mich: mit meiner Tochter ein ganz normales Leben zu führen. Ohne mir Gedanken zu machen, wie ich etwas bewerkstelligen kann. Einfach die Tür aufmachen – und reingehen.“ (Nadine R.)
„Ich kann mitmachen!“ (Lena)
Pitsch, patsch: zu Besuch in der Hasengruppe
„Guten Morgen, liebe Hasenkinder! Guten Morgen, liebe Erwachsene!“ Max Pluta, Heilerziehungspfleger, und die Hasenkinder sprechen die vertrauten Begrüßungsworte und begleiten sie mit Gesten. Gebärdenunterstützte Kommunikation heißt das oder kurz: GuK. Wenn Kinder sich mit dem Sprechen schwertun, kann GuK helfen. Die Gebärde für „Morgen“ ahmt die aufgehende Sonne nach, kurz über eine Wange streicheln bedeutet „lieb“. Über die Bewegungen prägen sich die Begriffe besser ein – und irgendwann fließen auch die Worte über die Lippen. 16 Kinder werden in der Hasengruppe betreut; fünf von ihnen haben einen erhöhten Förderbedarf – z. B. wegen einer Behinderung oder einer Entwicklungsstörung.
Die Hasenkinder, die Fachkräfte und eine Praktikantin sitzen im Kreis, jedes Kind auf einem Kissen mit seinem Namen darauf. Früher hatte nur ein Mädchen seinen eigenen Platz; die Kleine saß auf einer Teppichfliese. Die äußere Begrenzung gab ihr inneren Halt; sie wusste, wo ihr Platz war und fand hier zu mehr Ruhe. Aber allein auf einem Stückchen Teppich: Das fühlte sich auch irgendwie seltsam an. Nun hat jedes Kind seinen besonderen Platz – und niemand sieht, ob sein Kissen einem Therapiezweck dient oder einfach nur der Kuscheligkeit an einem frühen Morgen.
Ganz entspannt in einem neuen Kita-Tag ankommen: die Hasengruppe im Morgenkreis. In der Mitte steht eine Klangschale.
Bei unserem ersten Besuch in der Kita-Gruppe hatte nur ein Mädchen einen besonderen Platz. Heute sitzen alle Kinder – wie hier Lena – auf Kissen mit ihrem Namen.
Max ist kein Pinguin
Heute ist Ida das Morgenkind. Sie krabbelt in die Mitte des Kreises und zündet ganz alleine die Kerze an. Dann nimmt sie einen Klöppel und schlägt sachte auf die Klangschale. Sie rutscht zurück auf ihren Platz und alle Kinder lauschen auf den warmen, fülligen Ton, bis er ausklingt. „Hörst du noch etwas, Ida?“, fragt Max Pluta. Ida trippelt zur Klangschale, kniet sich hin und legt ihr Ohr ans Metall. Ernst nickt sie und kehrt an ihren Platz zurück. Der letzte flaumzarte Ton verhaucht. Ein paar Sekunden lang ist es ganz still. Im Morgenkreis ist Zeit besonders dehnbar und hüllt Hasenkinder und Hasenerwachsene in meditatives Wohligsein. Dann gibt Morgenkind Ida dem heutigen Tag ein Gesicht: Es ist ein Freitag und Oktober, die Jahreszeit heißt Herbst. Und der Himmel? Ida guckt nach und verkündet: bewölkt, kein bisschen Sonne zu sehen.
Allmählich fährt Max Pluta den Energieregler in der Hasengruppe hoch. „Pitsch, patsch, Pinguin“, singen die Kinder und Ida watschelt im Kreis. Sie sucht sich Pinguingenossen, um gemeinsam dem kribbelnden-kratzenden Eisbären zu trotzen. Erst lädt sie Omar ein; er springt hoch und reiht sich hinter Ida ein. Dann deutet Ida auf Lena, die gleich neben Max Pluta sitzt. Alleine aufstehen kann Lena nicht. In einer einzigen Bewegung steht Max Pluta auf, zieht Lena hoch, stellt sich hinter sie und fasst ihre Hände. Im Pinguinschritt watschelt Lena hinter Ida und Omar, drei kleine Pinguine, pitsch-patsch, pitsch-patsch. Max Pluta ist kein Pinguin, nicht Teil des Spiels. Er ist Lenas Schatten. Sie geht ihren eigenen Weg, gibt Richtung und Tempo vor, Pluta folgt ihr und unterstützt sie ganz unauffällig. Keines der Kinder schenkt ihm einen Blick. Es ist Lena, die mitspielt, mitlacht, mitfiebert, sich mit den anderen Kindern zusammenkauert und quietschend wegkrabbelt, als der grimmige Eisbär naht.
„Pitsch, patsch, Pinguin“, singt die Hasengruppe. Wer darf beim Pinguinspaziergang mitwatscheln?
„Ich!“ – „Ich!“ – „Ich!“ Lena hat Glück; Morgenkind Ida wählt sie gleich in der ersten Spielrunde aus.
Im kleinen Rund des Morgenkreises ersetzt Heilerziehungspfleger Max Pluta für Lena den Rollator. Dabei sind die Rollen klar verteilt: Lena führt, bestimmt Richtung und Tempo, Max Pluta gibt ihr nur Halt.
Hilfe, der Eisbär kommt! Die kleinen Pinguine retten sich nach dem Motto: Wen ich nicht seh‘, der sieht mich nicht. Alle Kinder gehen ganz ungehindert im Spiel auf.
Barrierefreiheit braucht: Gestaltung und Haltung
Lena hat eine Gehbehinderung. Ihre Füße wollen nicht nach vorne zeigen, sondern nach innen, zueinander. Für kurze Strecken wie in der Kita nutzt Lena ihren rosa-schwarzen Rollator, für längere Wege den Rollstuhl. Auch ihre Handgelenke sind beeinträchtigt. Fein abgestimmte Bewegungen sind schwierig für sie, genauso wie kraftvolles Zupacken. Manchmal braucht Lena Hilfe, wenn sie bastelt, ihre Schuhbänder schnürt oder den Reißverschluss zuzieht. Lena sieht nicht gut, auch nicht mit Brille; sie kann Entfernungen schwer einschätzen und stößt oft an Möbel.
Doch eine Behinderung ist nicht das, was einen Menschen ausmacht – sondern nur das, was ihn manchmal einschränkt. Lena ist sechs Jahre alt. Sie ist ziemlich schlau und kann sich gut ausdrücken; nächstes Jahr kommt sie in die Schule. Lena ist fröhlich und liebevoll und hat riesige Lebenslust. Sie hat sich hineingekämpft ins Leben; jetzt will sie es auskosten. Lena ist stark. Manchmal ist ihre Mutter müde vom Alltag zwischen Therapie und Arztbesuchen, vom Alltag mit Zeigefingern, die auf ihr Kind deuten und dem Getuschel fremder Menschen hinter ihrem Rücken, weil da ein kleines Mädchen mit einem Rollator geht. Dann nimmt Lena den Kopf ihrer Mutter fest zwischen beide Hände und drückt ihn an ihre Stirn. Danach geht’s wieder.
In der Kita Sonneninsel kann Lena, gemeinsam und gleichberechtigt mit allen anderen Kindern, sich und ihre Stärken entfalten. Die barrierefreie Gestaltung eröffnet ihr den nötigen Raum und ungehinderten Zugang – z. B. durch extrabreite, schwellenlose Türstöcke, Flure mit reichlich Platz zum Rangieren, große, deutlich erkennbare Wegweiser, Bäder mit Haltestangen, höhenverstellbaren Waschbecken und behindertengerechten Toiletten, breite, ebene Wege im Freigelände, Stühle, die mit Armlehnen und Anti-Rutsch-Kissen Halt geben, sowie vielen weiteren Details.
Barrierefrei ist auch die Haltung aller Fachkräfte im Kita-Team. Sie betonen nicht die Einschränkungen der Kinder, sondern ihre Kräfte und Möglichkeiten – und unterstützen sie dabei, sich zu entwickeln und ihre kleinen und großen Ziele zu erreichen.
Schauen Sie rein: Sonnige Einblicke in einen Sonneninsel-Tag erwarten Sie im Video „Bayern barrierefrei: Kita Sonneninsel“ mit UT/DGS/AD.
Nadine und Lena R. haben Jahre voller Angst und Schmerzen hinter sich. Heute überwiegt immer öfter die Lebensfreude. Dank intensiver Förderung durch ihre Mutter und spezialisierte Fachkräfte steht Lena heute auf eigenen Beinen. In einer barrierefreien Umgebung kann sie all ihre Ziele erreichen.
Nadine R. findet es gut, dass man ihrer Tochter Lena in der Kita Sonneninsel „nicht den Popo hinterherträgt, sondern sie fordert“. Sie möchte Lena zu einem starken und selbstständigen Menschen erziehen.
Lena zieht heute andere Kinder mit
Zweieinhalb Jahre alt war Lena, als sie in die Kita kam. Sie konnte nicht gehen, nicht stehen, nicht krabbeln. Aber sie quoll über vor Neugier auf die anderen Kinder und vor Lust, mit ihnen zu spielen. Die Erzieherinnen legten Lena einfach mittenrein in den Kita-Trubel. Die anderen Kinder schlugen keinen Bogen um Lena, sondern schleppten ihr Lieblingsspielzeug an. Als Lena ein Baby war, dachten die Ärzte, sie würde niemals gehen oder sprechen. Heute redet Lena wie ein Wasserfall, steht hinterm Rollator auf beiden Beinen und zieht andere mit. Lenas Einstellung, sagen sie in der Kita, übertrage sich auf die anderen Kinder. Und Lenas Mutter sagt: Mindestens zu 80 Prozent verdanke Lena ihre Entwicklung der Kita. Alle im Team steckten ihr ganzes Herzblut in das Kind.
Eine barrierefreie Gestaltung – von Räumen, Freiflächen, Spielmaterial – ist wichtig, wenn Kinder mit Behinderung beginnen, selbstständig ihre Welt zu erkunden. Doch was vom allerersten Kita-Tag an zählt, ist eine barrierefreie Haltung. Die Überzeugung: Wer mitmachen will, soll mitmachen können.
Jedes Kind in seinem Tempo
Nach dem Morgenkreis spielen die kleineren Kinder in ihrem Gruppenraum; die Vorschulkinder gehen in die Hasenschule. Das ist ein Tisch im Esszimmer. Fünf Mädchen beugen sich über Bögen mit aufgedruckten Formen. Gruppenleiterin Helga Röhrner erklärt den Unterschied zwischen Rechteck und Quadrat, zwischen Kreis und Oval. Dann malen die Kinder die Formen bunt aus. Los geht’s: alle Kreise rot! Lena sitzt auf einem genoppten Kunststoffkissen. Die Noppen sorgen dafür, dass sie nicht vom Stuhl rutscht. Wer fertig ist, darf noch eine Runde im Gruppenraum spielen. Lena malt bis zum Schluss. Dann entscheidet sie, dass sie das Blatt zu Hause fertig ausmalen wird. Lena hat ihr Tempo und weiß sehr genau, was sie wie schnell schafft.
Die Hasen scharren mit den Pfötchen ...
Draußen ist es immer noch neblig-kühl, doch die Hasengruppe scharrt schon mit den Pfötchen. Also: Matschhosen anziehen, Anorak drüber, dann die Stiefel. „Ma-haaaax, meine Matschhose ist verkehrt rum!“ Also: Stiefel wieder ausziehen, Anorak auch, dann die Matschhose. Und wieder alles von vorn, diesmal richtigherum. Während Max Pluta die richtigen Kinder in die richtigen Kleider steckt, trödeln Lena und ein kleiner Bub herum. Beide lehnen verträumt auf der Garderobenbank und ruckeln mit den strumpfsockigen Füßen an ihren Stiefeln. Max Pluta macht ihnen Beine und erstaunlicherweise formiert sich die Hasengruppe nach nur zehn Minuten tadellos eingekleidet zum Marsch in den Garten. „Eins, zwei, Polizei“, brüllen die ersten und stiefeln los. Lena reiht sich mit ihrem Rollator ein. „Drei, vier, Offizier“, die Hasenkolonne biegt im Flur Richtung Gartentür ab. „Fünf, sechs, alte Hex“: Blitzschnell löst sich die Gruppe im Garten in Grüppchen auf. Einige kraxeln einen kleinen Hügel zu den Rutschen hoch, andere flitzen zu den Schaukeln, zum Sandkasten oder zum Fangenspielen auf die Wiese.
In der Hasengruppe wird gespielt und geforscht, gelernt und getobt, gestritten und gekuschelt wie in jeder anderen Kita. Das Besondere: Kinder mit und ohne erhöhtem Förderbedarf entdecken hier gemeinsam, gleichberechtigt und barrierefrei die Welt.
In einer Nestschaukel kann man nicht nur schön geborgen herumhängen, sondern auch richtig wild schaukeln. Wenn die anderen Kinder im Garten Fangen spielen, sucht sich Lena lieber eine ruhige Ecke. Beim Extremschaukeln ist sie wieder mit dabei und voll in ihrem Element.
„Barrierefrei“ heißt nicht, Herausforderungen zu vermeiden. Im Gegenteil!
Lena bleibt in der Nähe der Erwachsenen. Sie geht nicht so gern wie die anderen in den Garten; beim Rennen, Klettern und Toben kann sie mit den Kindern nicht mithalten. „Ich mag jetzt nicht mehr laufen“, verkündet sie. Sie setzt sich auf eine Holzbank vorm Haus und ruft nach Max Pluta. Der winkt sie zu sich. Lena schüttelt den Kopf und ruft noch einmal. Doch Max Pluta lacht nur. Na schööön ... Lena steht auf und trottet ergeben zu ihm hin. „Barrierefrei“ heißt nicht: es den Kindern so einfach wie möglich machen, alle Herausforderungen vermeiden. Im Gegenteil. Das Team steckt den Kindern immer wieder neue Ziele. Sie können sie erreichen. Wenn sie sich anstrengen. Deshalb geht Lena inzwischen an guten Tagen von der Gartentür bis zum Sandkasten ohne Rollator. Zehn lange Meter und ganz allein.
Schließlich finden sich ein paar Kinder zum Versteckspiel zusammen. Das kann Lena gut. Sie ist nicht so schnell wie die meisten anderen, aber sie kennt prima Verstecke, in denen sie samt Rollator untertaucht. Der gesamte Garten ist durch einen breiten, gepflasterten Rundweg erschlossen. An vier Tagen pro Woche dürfen die Kinder hier mit Dreirädern, Rollern und Tretautos herumkurven. Lena hat jeden Tag freie Bahn. „Eeeeiiiins, zweeeiii, dreeeiii … Als der Sucher sich umdreht, sind alle Kinder verschwunden. Aus den Büschen klingt Gekicher.
Eine Barriere? Nein, ein Schutzschild!
Nicht nur Lena hat in der Hasengruppe einen erhöhten Förderbedarf. Ein Kind in der Hasengruppe kann noch nicht flüssig sprechen, einem anderen fällt es schwer, sich zu konzentrieren – und es kommt mit sich und den anderen manchmal nicht gut zurecht. Ein Bub will sich selbst wehtun, wenn die Welt wie eine Woge über ihm zusammenschlägt. Für ihn hat das Team einen ganz kleinen Rückzugsort geschaffen: eine abgeschirmte Ecke nur für ihn, mit nichts als einer Matratze. Hier muss der Bub sich nicht entscheiden zwischen Malen und Spielen, zwischen gelbem und grünem Stift, zwischen Lena und Omar, hier wird er nicht gefordert und fühlt sich nicht überfordert. Hier kann er einfach zur Ruhe kommen. Barrierefreiheit heißt nicht: alles einreißen, was Menschen unterscheidet. Sondern die Welt so gestalten, dass sie mit all ihren Unterschieden ihre Ziele erreichen, ob miteinander oder allein. Und wenn ein kleiner Bub ab und zu einen Schutzschild braucht: Dann wird er für ihn gebaut – und nützt vielleicht auch anderen Kindern, die mal eine Pause vom Außen suchen.
Barrierefreiheit heißt nicht: alles einreißen, was Menschen unterscheidet.
Manchmal kichern die Kinder in der Kita Sonneninsel, wenn z. B. ein Neuankömmling sich mit dem Sprechen schwertut, lispelt oder stottert. Dann schimpft das Team nicht, sondern klärt die Kinder auf. Und bald ist es völlig normal, dass der XY anders redet. Oder vielleicht sogar gar nicht. Wenn er nett ist, klettern die Kinder einfach über die Sprachbarriere und finden einen Weg, mit ihm zu spielen.
Bildergalerie: Lenas Tag in der Kita
Nadine R.: „Ich möchte, dass Lena weiterkommt.“
Vor knapp sieben Jahren war Nadine R. mit Drillingen schwanger. Drillinge! Als sie sich gerade mit dem Gedanken vertraut gemacht hatte, sich auf die Babys zu freuen begann, verlor sie zwei der Kinder – wie sich herausstellte, hatten beide eine schwere Chromosomen-Schädigung. Eine Fruchtwasseruntersuchung ergab: Das dritte Kind war nicht betroffen. Es überlebte im Bauch von Nadine R. und wuchs ganz unauffällig heran. Es war ein Mädchen und es sollte Lena heißen.
Als Lena zur Welt kam, etwas zu früh, war alles an ihr dran und sie schien fit. Doch Lena war sehr klein und dünn. Die Nabelschnur war während der Schwangerschaft nicht richtig mit dem Mutterkuchen verbunden, fanden die Ärzte heraus; Lena hatte im Bauch der Mutter gehungert. Nadine R. ging mit Lena nach Hause. Die Kleine hatte ordentlich Appetit: eine große Erleichterung. Doch alles andere machte der jungen Mutter Sorgen. Meist lag Lena ganz still im Bettchen, schaute sich nicht um, reagierte nicht auf Geräusche. Sie hatte Fieberkrämpfe, epileptische Anfälle. Als plötzlich Lenas Atmung aussetzte, konnte Nadine R. ihr Kind gerade noch retten. „In den ersten drei Jahren war ich mit Lena fast nur im Krankenhaus. Es war klar, dass sie krank war. Aber was hatte sie denn?“
Ganz normaler Kinderalltag
Schließlich entdeckten die Ärzte weiße Felder in Lenas Gehirn: ein Hinweis auf unzureichende Sauerstoffversorgung im Mutterleib. Diese Gehirnschädigung, so stellten sie fest, ist die Ursache für Lenas Bewegungsstörung und ihre Krampfanfälle – zusammengefasst unter dem Begriff „Cerebralparese“. Eine Cerebralparese ist nicht heilbar. Doch Medikamente helfen gegen die Epilepsie und Physio- und Ergotherapie können z. B. die Bewegungsfähigkeit entwickeln. Für Nadine R. bedeutete die Diagnose eine gewaltige Erleichterung. „Ich hatte mir immer Vorwürfe gemacht, weil ich dachte, ich könnte `schuld´ sein an Lenas Behinderung. Jetzt war zum einen klar: Es war Schicksal. Und zum anderen wusste ich nun genauer, woran wir sind und konnte anfangen, in die Zukunft zu blicken.“
Mehr Freiraum für Mutter und Kind
Lenas Zustand wurde stabiler. In die Zukunft zu sehen, bedeutete für Nadine R. auch: eine Kinderkrippe zu suchen, in der Lena nicht nur gefördert würde, sondern auch ganz normalen Kinderalltag erleben könnte. Das Sozialpädiatrische Zentrum in Landshut empfahl Nadine R. die Kita Sonneninsel. „Beim Vorstellungsgespräch habe ich furchtbar geweint. Die Sorgen, die ständigen Untersuchungen, die Therapien – ich stand ständig unter Strom.“ Lena bekam sofort einen Platz in der Kita. Über einen längeren Zeitraum wurde sie ganz langsam eingewöhnt. „Sie war schon vorher sehr interessiert an anderen Menschen, vor allem an Kindern. Man merkte: Sie möchte mit anderen spielen. Ich hatte nie Zweifel, dass sie es packt. Lena hat einen enorm starken Willen und viel Kraft. Als ich im Sozialpädiatrischen Zentrum Lenas Diagnose bekommen habe, hat Lena meine Hand genommen und sie gestreichelt. Der Arzt hat gesagt: Lena will ihnen mitteilen, dass alles gut wird.“
Bevor Lena zur Welt kam, war Nadine R. Abteilungsleiterin in einem Modegeschäft: „Mein absoluter Traumjob.“ Nach der Geburt musste sie sich um ihr schwerkrankes Kind kümmern. Rund um die Uhr, an sieben Tagen pro Woche. Seit Lena in der Kita ist, hat Nadine R. nun wieder etwas Zeit für sich. Sie arbeitet wieder, stundenweise, in einem Friseursalon. Eine feste Stelle kann sie noch nicht übernehmen, zu oft gibt es Krisen. Wie im Sommer, als Lena einen schweren epileptischen Anfall erlitt. Wieder lag sie im Krankenhaus, bis die Ärzte ihre Medikamente neu eingestellt hatten. Wieder verbrachte Nadine R. Tage und Nächte voller Sorge am Bett ihres Kindes. „Lena“, sagt Nadine R., „ist die größte Liebe meines Lebens. Aber nur weil sie behindert ist, verhätschele ich sie nicht. Und das finde ich auch sehr gut im Kindergarten: Dort trägt ihr niemand den Popo hinterher.“