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„Schau“-Spiel hören, tasten, spüren: Theater barrierefrei
Memmingen, August 2021. Barrierefreies „Schau“-Spiel kann auch blinden Menschen als starkes Erlebnis unter die Haut gehen. Und mit DIN-gerechten Standards und pfiffigen Ideen über die Normen hinaus wird der Theaterbesuch für alle Gäste zum entspannten Vergnügen. Zum Beispiel im Landestheater Schwaben (LTS) in Memmingen. Hier erwartet Theaterfans mit Behinderung ein tolles Servicepaket, vom „Komm-vor“-Einlass bis zur Touch Tour.
Über das Landestheater Schwaben (LTS)
Das Landestheater Schwaben (LTS) ist die kulturelle Mitte von Memmingen, das Herz der Stadt. Und es pulsiert kräftig. Die Bürgerbühne lädt alle Menschen zum Mitmachen ein, das Junge Theater spricht den Nachwuchs an (und hört ihm gut zu) und Stücke werden nicht nur im Großen Haus (Foto) inszeniert, sondern auch mal auf dem obersten Deck eines Parkhauses. Neugierig und nahbar erlebt man das Theater. Ganz klar, dass man hier auch gemeinsam Barrieren überwinden möchte!
Unsere Meinung
„Was Barrierefreiheit ist? Ganz simpel: Wenn jeder machen kann, was er oder sie will.“ (Julia Kropf, bis zur Spielzeit 2020/21 Disponentin am LTS und verantwortlich für die barrierefreien Angebote)
„Barrierefreiheit bedeutet, dass niemand ausgeschlossen wird.“ – „Ja, ein Angebot, das für alle offensteht!“ (Anke Fonferek und Regina Vogel, Schauspielerinnen am LTS)
Über Yvonne Burkhardt
Yvonne Burkhardt kam blind zur Welt. In Beruf und Freizeit ist sie ganz Ohr, als Telefonistin, Funkamateurin, Podcast-Hörerin. Fürs Theater schwärmte sie früher aus der Ferne, wagte sich aber nie ans „Schau“-Spiel heran. Bis das LTS sie einlud, barrierefreie Angebote mitzuentwickeln. Heute ist Yvonne Burkhardt aktiver Theaterfan.
Meine Meinung
„Barrierefreiheit bedeutet für mich, dass ich nicht lange nachdenken muss, wie ich etwas erreichen kann. Und, dass ich Infos mit MEINEN Mitteln erlangen kann.“ (Yvonne Burkhardt)
Touch Tours für blinde Theaterfans
Das Große Haus des Landestheaters dämmert in honigwarmem Licht. Der Zuschauerraum mit rund 400 Plätzen ist leer, alle Sitzflächen sind hochgeklappt. Nur Platz 2 in der vordersten Reihe ist besetzt. Yvonne Burkhardt hält den weißen Langstock locker in der rechten Hand, beugt sich nach vorn und lauscht. Ihr gegenüber, auf dem Bühnenrand, hat sich Thomas Gipfel niedergelassen; er ist Dramaturg am LTS. Weit hinter ihm auf der Bühne leuchtet neonweiß ein Schriftzug: „Paradise“.
Konzentriert lauscht Yvonne Burkhardt ...
... während Dramaturg Thomas Gipfel im Wechselspiel mit den Schauspielerinnen die Handlung des Stücks schildert.
Thomas Gipfel lässt seine Beine baumeln und erzählt aus dem Stegreif: „Das Stück findet auf einer fast leeren Bühne statt. Ein kaum merklicher Lichtwechsel macht deutlich, wie der Tag langsam abläuft ...“ Der Dramaturg stellt das Schauspiel „In der Dämmerung“ vor, das als Robinsonade beginnt und vom Abschiednehmen handelt. Zwei Stunden später werden die Schauspielerinnen Anke Fonferek und Regina Vogel in die Rollen von zwei Gestrandeten auf einer einsamen Insel schlüpfen. Jetzt sitzen die beiden Frauen neben dem Dramaturgen auf der Bühne.
Sich mit den Stimmen der Schauspielerinnen vertraut machen
Als Gipfel seine Hände, die eben noch durch die Luft flatterten, in den Schoß legt, stellen sich die Schauspielerinnen vor. „Ich bin die Anke“, sagt Anke Fonferek mit ihrer klaren, dunklen Stimme, „ich spiele die Helen ...“ Yvonne Burkhardt hört Fonferek mit konzentrierter Miene zu und nickt. Wenn die Schauspielerin in zwei Stunden als Schiffbrüchige auf die Bühneninsel kriecht, wird Burkhardt die Stimme wiedererkennen und zuordnen können. Details wie dieses zeichnen die Touch Tours gegenüber der herkömmlichen Einführung vor einer Theatervorstellung aus.
Und dann geht’s zur Sache, buchstäblich. Oder besser: zu den Sachen. Den Kostümen, Requisiten und Kulissen auf der Theaterbühne! Denn die dürfen blinde und sehbehinderte Theaterfans anfassen und in Ruhe erkunden – und damit „be-greifen“, was die anderen im Zuschauerraum später sehen. Komm Sie mit auf Touch Tour in unserer Bilderstory:
Bildergalerie: Touch Tour auf der Theaterbühne
„Komm-vor“-Einlass ... und viele weitere Ideen
Julia Kropf war von 2018 bis 2021 Disponentin am LTS in Memmingen. Mit Fragen der Barrierefreiheit hatte sie sich schon während ihres Film- und Medienstudiums in Schottland und ihrer Arbeit im Kinomanagement beschäftigt. Als sie in die Heimat zurückkehrte und ans Theater kam, stellte sie fest: „In Deutschland gibt es noch nicht so viele barrierefreie Angebote in Theatern.“ Das wollte sie zumindest für ihr Haus ändern. Die Theaterleitung sicherte ihr sofort Unterstützung zu. „Das Haus für alle zu öffnen, ist bei uns eine Grundhaltung“, sagt die Disponentin. Also begann Julia Kropf, ein Netzwerk zu knüpfen. Als Partner gewann sie die örtliche Fachstelle für Inklusion, den Behindertenbeirat der Stadt Memmingen und den Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund e. V.
Setzt auf Dialog und Miteinander: Julia Kropf regte im LTS Memmingen das Barrierefrei-Projekt an. Im Haus stieß sie auf einhellige Zustimmung und Unterstützung.
Welche Bedürfnisse haben Menschen mit verschiedenen Formen von Behinderung? Das erfuhr Julia Kropf aus erster Hand von Betroffenen. Sich nach dem ersten Gongschlag durch die Menschenmenge arbeiten und seinen Platz einnehmen? Schwierig für viele Menschen mit Behinderung – und für alle, die an Klaustrophobie leiden und sich im Gedränge unwohl fühlen. Frauen spielen Männerrollen? Verwirrend für blinde Theatergäste! Ein Blindenführhund muss mit? Dann braucht sein Frauchen oder Herrchen einen Platz am Rand! Nach der Abendvorstellung mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause fahren? Im ländlichen Raum schwierig, nicht nur für ältere Besucherinnen und Besucher!
Betroffene Menschen einbinden: ein Grundprinzip der Barrierefreiheit
Nach und nach entstanden aus den gemeinsamen Überlegungen konkrete Angebote. Vorstellungen auch am Samstagnachmittag, der Comfort [Komm vor] Einlass, die Touch Tours, die Plätze für Gäste mit Blindenführhund. Ein barrierefreier Zugang, ein Aufzug, zwei behindertengerechte WCs und eine induktive Höranlage für Menschen mit Hörbehinderung waren seit einem Umbau des Theaters schon vorhanden.
„Das Haus für alle zu öffnen, ist bei uns eine Grundhaltung.“
Der Comfort – gesprochen: Komm vor! – Einlass (hier nachgestellt von Yvonne Burkhardt und Julia Kropf) ist ein Service des LTS für Menschen mit Behinderung – und für alle, die sich zum Beispiel in einer Menschenmenge unwohl fühlen. Sie dürfen vor allen anderen ihre Garderobe abgeben und ganz in Ruhe ihren Platz einnehmen.
Dieses Schild mit der Ohrmuschel weist auf die induktive Höranlage im Theatersaal hin. Wer ein geeignetes Hörgerät trägt, schaltet einfach auf Spule T um – und empfängt dann Sprache und Musik in klarer Qualität und ohne störende Umgebungsgeräusche.
Barrierefreiheit: eine Bereicherung für alle!
Die Ideen am LTS sprudeln weiter. Geplant bzw. angedacht sind unter anderem Audiodeskriptionen für sehbehinderte Menschen, Programmhefte und Online-Infos in Leichter Sprache, Live-Übersetzung von Ein- oder Zwei-Personen-Stücken in Gebärdensprache, Angebote für Menschen mit Autismus ... Dass Gebärdensprachdolmetschende live übersetzen, findet Julia Kropf besonders spannend. „Dann erleben auch die hörenden Menschen, wie Barrierefreiheit funktioniert. Und es macht etwas mit dem Stück, der Inszenierung, dem Publikum – und auch den Schauspielerinnen und Schauspielern.“ Das Gebärden-Erlebnis verschmilzt mit der Inszenierung und bereichert das Stück, Barrierefreiheit wird zum (mit-)tragenden Element der Theaterkunst.
Wie kann man Kino- und Theatererlebnisse allen zugänglich machen: seh- und hörbehinderten Personen genauso wie zum Beispiel Menschen mit Autismus? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Julia Kropf (rechts) ...
... schon seit ihrem Studium. Ihr Vorschlag, barrierefreie Angebote über die DIN-Normen hinaus einzuführen, erfuhr am LTS viel Zustimmung.