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Barrierefrei Fernsehen und Filme erleben

München, August 2020

Eine Zeichentrickfigur – mit Knollennase, strubbeligen roten Haaren, grüner Hose, gelbem Pullover und nackten Füßen – hüpft durch eine Schreinerwerkstatt. Wen haben Sie vor Augen? Genau, Pumuckl! Aber wenn Sie blind wären und den Kobold noch nie gesehen hätten: Hätten Sie denselben Spaß an der Serie, wenn Sie nur seine Stimme hören? „Wir machen Fernsehen auch für sehbehinderte Menschen erlebbar“, erzählt Manuela Schemm. Die Münchnerin, selbst erblindet, arbeitet als Audiodeskriptions-Autorin. Gemeinsam mit einer sehenden Kollegin beschreibt sie die Bildwelten im TV. Von solchen Hörfilmen über Untertitel bis Apps: Erfahren Sie mehr über die spannende Welt des barrierefreien Fernsehens.

Über Manuela Schemm und Elisabeth Löhmann

Die beiden Münchner Hörfilm-Autorinnen Manuela Schemm und Elisabeth Löhmann arbeiten seit rund zwei Jahren erfolgreich als Team: Schemm ist seit ihrem 13. Lebensjahr erblindet, Löhmann hat keine Seheinschränkungen.

privat/Elisabeth Löhmann, privat/Manuela Schemm

Mitmachen, mitreden: Warum barrierefreies TV wichtig ist

Nachrichten, Doku, Action, Krimi, Liebesdrama oder Soap: Natürlich haben auch Menschen mit Seh- oder Hörbehinderungen Lust auf Wissen und Spaß an Unterhaltung im TV. „Ab und zu möchte ich mit Freunden und Familie gemütliche Fernsehabende verbringen, wie jeder andere auch“, erklärt die blinde Manuela Schemm. „Und ich will mitreden können: bei politischen Themen, aber auch wenn es um den letzten Tatort oder die neueste Netflix-Serie geht. Denn auch das ist eine Form von gesellschaftlicher Teilhabe.“ Doch was für Menschen ohne Sinnes-Handicaps Alltag ist – einfach den Fernseher anmachen, in einem riesigen Angebot herumzappen und drauflosschauen – war und ist für Seh- oder Hörgeschädigte nicht selbstverständlich.

Auch Fernsehen und Filmerlebnisse sind ein wichtiger Bestandteil des sozialen Miteinanders und der gesellschaftlichen Teilhabe: Ich möchte mitreden können, mich nicht ausgeschlossen fühlen und – egal ob Nachrichten oder Unterhaltung – dieselbe große Auswahl haben wie alle anderen.

Manuela Schemm

UT, DGS, AD: Was sind die Hilfsmittel?

Mittlerweile stellen alle öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland (und zunehmend auch die privaten) Teile ihres Programms barrierefrei zur Verfügung. Das heißt: mit Untertiteln und/oder Übersetzung in Gebärdensprache (für Menschen mit Höreinschränkungen) oder mit Audiodeskriptionen (also als Hörfilme, für Menschen mit Seheinschränkungen). Viele hörende und sehende Menschen wissen gar nicht, dass es diese Zusatzangebote gibt und dass sie sie auch selbst an ihrem Fernsehgerät abrufen könnten. Dabei sind die barrierefreien Versionen für verschiedenste Zuschauer nützlich. Zum Beispiel: auch für ältere Menschen, bei denen die Seh- und Hörfähigkeiten nachlassen. Oder: für alle, die die deutsche Sprache durch Mitlesen oder Mithören lernen möchten.

Untertitel (UT) – für Menschen mit Hörbeeinträchtigung

Untertitel sind eingeblendete Textzeilen am unteren Bildschirmrand. Sie geben das Gesagte schriftlich wieder. Gute Untertitel dürfen den Stil des Films nicht verfälschen. Sie sollen etwa Dialoge nicht vereinfachen und Kraftausdrücke nicht zensieren. Sogenannte „erweiterte Untertitel“ (Captions) beschreiben auch Geräusche und Musikstile.

Deutsche Gebärdensprache (DGS) – für Menschen mit Hörbeeinträchtigung

Gehörlose Menschen nutzen u. a. die Deutsche Gebärdensprache, um sich zu verständigen. „Gesprochen“ wird mit Finger- und Handzeichen, Mimik, Lippenbewegungen und Körperhaltung. Bei Filmen und Sendungen mit Gebärdensprachvideo wird in einer Ecke durchgängig eine Gebärdensprachdolmetscherin oder ein Gebärdensprachdolmetscher eingeblendet.

Audiodeskription (AD) – für seheingeschränkte und blinde Menschen

Mit Audiodeskriptionen werden Bilder vorstellbar. Filme mit AD werden auch Hörfilme genannt. Ein Sprecher oder eine Sprecherin beschreibt, was im Film zu sehen ist: Welche Personen treten auf, was haben sie an, welchen Gesichtsausdruck zeigen sie, was tun sie gerade und in welcher Umgebung? Die Beschreibungen hört man kurz und knapp in den Sprechpausen der Schauspieler, denn der Ton des Films läuft ganz normal weiter. Audiodeskription ist auch im Theater, im Kino, in der Oper oder im Museum möglich.

Seit ich Manuela kenne, nehme ich auch im Alltag viel bewusster die ‚nicht visuellen‘ Sinneseindrücke wahr: das Schmecken, Riechen und Hören beim Kochen zum Beispiel. Und: Mir fallen viel mehr Stolperfallen auf Straßen und in Gebäuden auf, die für Menschen mit Sehbehinderungen große Hürden sind.

Elisabeth Löhmann

Einblick bei den Machern: der Hörfilm

„Als Sehende denke ich manchmal, ich müsste Dinge an einer Filmszene beschreiben, die aber für blinde Menschen gar nicht entscheidend sind“, erzählt Elisabeth Löhmann. „Und vernachlässige andererseits Infos, mit denen sie sich die Szene lebendiger vorstellen könnten. Deshalb ist die Teamarbeit mit Manuela so wichtig.“ Die Münchner Journalistin Löhmann produziert seit rund zwei Jahren gemeinsam mit Manuela Schemm Audiodeskriptionen – für den Bayerischen Rundfunk (BR), aber auch für das ZDF, ARTE und Netflix.

Schemm ist seit ihrem 13. Lebensjahr durch eine Erbkrankheit erblindet. Sie erklärt die unterschiedlichen Wahrnehmungswelten an einem Beispiel: „Blinde nehmen sehr viel mehr Informationen über Geräusche wahr, als Sehende vermuten. Wenn ich ‚ding dong‘ höre, muss mir keiner beschreiben, dass es an der Tür klingelt. Und wenn Geschirr klappert, brauche ich nicht die allgemeine Info: ‚Franz sitzt am Tisch und isst.‘ Ich will wissen: Was isst er? Und wie sieht der Raum aus, in dem er isst?“ Tatsächlich ist ein guter Hörfilm eine Kunst für sich und erfordert sehr viel Übung und Erfahrung.

Wie entstehen Untertitel?

Auch hinter der Produktion von Untertiteln für Menschen mit Höreinschränkungen steckt viel Aufwand. Beim BR zum Beispiel ist dafür eine eigene Untertitel-Redaktion verantwortlich. Durchschnittlich arbeiten hier jeden Tag 12 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Schichtdienst, um von Nachrichten über Dokus bis zu Spielfilmen Gesagtes, Geräusche und Musikstile zu verschriftlichen. Besonders herausfordernd sind Live-Sendungen. Dabei müssen die Texterinnen und Texter so schnell arbeiten wie Simultanübersetzende.

privat/Elisabeth Löhmann, privat/Manuela Schemm
Die erblindete Manuela Schemm und die sehende Elisabeth Löhmann haben schon viele Audiodeskriptionen für Hörfilme gemeinsam erstellt. „Durch Manuelas Nachfragen finde ich oft noch passendere Worte“, sagt Löhmann. „Zum Beispiel für die Beschreibung einer eindrucksvollen Landschaft.“

Für besonders gelungene Versionen wird sogar jedes Jahr ein eigener Hörfilmpreis verliehen: „ADele“, angelehnt an die Abkürzung AD für Audiodeskription. Das Filmerlebnis wird für Blinde intensiver, wenn die Sprache der Audiobeschreibungen abwechslungsreicher ist, schnell das Wesentliche trifft (oft bleiben z. B. für eine Landschaftsbeschreibung nur drei bis fünf Sekunden Zeit) und wenn Adjektive besonders gut passen. „Die richtigen Adjektive sind vor allem bei Mimik wichtig, denn der Gesichtsausdruck transportiert die Emotionen eines Films“, erklärt Schemm. Und Kollegin Löhmann ergänzt lachend: „Manuela hakt bei mir als `Sehende´ oft so lange nach, bis ich das richtige Wort gefunden habe. Sie fragt mich dann: Wie genau schaut der Mann die Frau an? Betroffen? Bist du sicher? Oder niedergeschlagen? Oder verzweifelt?“ Durch Manuela bin ich in meiner Wortwahl viel achtsamer geworden. Und das hat sich auch auf meine Wahrnehmung von Menschen und Dingen im Alltag übertragen.“

Barrierefreies Fernsehen: Entwicklung in Zahlen

In Sachen Barrierefreiheit hat sich in den letzten zehn Jahren bei allen TV-Sendern eine Menge getan. Besonders für Menschen mit Höreinschränkungen steht mittlerweile eine breite Auswahl an Filmen mit Untertiteln zur Verfügung. Die Entwicklung veranschaulicht am Beispiel ARD/Das Erste: Auf das gesamte Programm bezogen stieg die Untertitelquote von 22 Prozent im Jahr 2007 auf über 97 Prozent Ende 2019. Zudem bietet die ARD in der abendlichen Hauptsendezeit (20 bis 23 Uhr) mittlerweile mehr als 50 Prozent aller Sendeminuten mit Audiodeskriptionen an, also für Menschen mit Seheinschränkungen. 2008 lag dieser Anteil bei nur mageren zwei Prozent. Aufwendigere Gebärdensprachvideos kommen in der Regel nur bei Nachrichtensendungen und politischen Talkshows zum Einsatz, u. a., weil sie bei Spielfilmen eher stören.

Auch beim BR stehen mittlerweile für rund 90 Prozent des täglichen Gesamtprogramms Untertitel zur Verfügung. Hörfilm-Versionen gibt es derzeit für rund ein Viertel des BR-Abend-Programms. Dr. Bernd Benecke vom BR erklärt den Unterschied: „Für Audiodeskriptionen sind Arbeitsaufwand und Kosten höher als für Untertitel, deshalb können wir – wie auch alle anderen deutschen Fernsehsender – für Hörfilme noch nicht dieselbe große Auswahl anbieten.“ Aus Kostengründen konzentriert sich auch das Privatfernsehen in Sachen Barrierefreiheit bisher fast ausschließlich auf Untertitel: Derzeit sind je nach Unternehmen etwa ein Viertel bis ein Drittel aller Sendungen „betextet“.

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Die Abkürzung „UT“ ist seit 2010 das offizielle Symbol für Untertitel. Zuvor war es ein durchgestrichenes Ohr – dieses Symbol bezog sich aber zu sehr auf Hörbehinderungen und wurde als diskriminierend empfunden. Das neutralere „UT“ soll ausdrücken, dass nicht nur Hörgeschädigte von Untertiteln profitieren, sondern z. B. auch Personen mit Lese- und Rechtschreibschwäche sowie Menschen, die Deutsch als Fremdsprache lernen.

Was, wann, wo: barrierefreie Sendungen finden

„Um barrierefreie Sendungen anschauen zu können, muss man aber auch erstmal wissen, wann was wo läuft“, betont Manuela Schemm lachend. Das herauszufinden, war viele Jahre mühsame Sucherei. Mittlerweile haben fast alle Fernsehsender auf ihren Websites Hinweise auf eigene barrierefreie Angebote gebündelt. Doch den Nutzerinnen und Nutzern fehlte ein senderübergreifender Überblick. Seit 2018 gibt es dafür die Website „TV für alle“. „Derzeit lässt sich hier das gesamte deutsche TV-Programm nach Sendungen mit Untertiteln und/oder Audiodeskriptionen filtern“, erklärt Projektmitarbeiter Jonas Deister. „Geplant ist, den Such-Service auch für die breit verteilten Angebote in Mediatheken und bei Streamingdiensten auszuweiten.“ Denn auch Netflix, Amazon Prime & Co produzieren für immer mehr Filme und Serien Hör-Varianten und ausführliche Untertitel.

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Was gibt’s Sonntagabend im barrierefreien Fernsehen? Auf der Website „TV für alle“ finden Menschen mit Seh- oder Hörbehinderungen übersichtlich alle Hörfilme und Sendungen mit Untertiteln – senderübergreifend, wie in einer Programmzeitschrift.

Fundgrube für Hörfilme

Recherchetipp speziell für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen: die Website hörfilm.info. Sie ist eine umfangreiche Fundgrube mit Links zu Angeboten im aktuellen TV, in Mediatheken, bei Video-on-Demand- bzw. Streaminganbietern, auf DVD und Blu-ray – oder auch im Kino. Über die Nummer (030) 25 55 80 800 kann man sich das Hörfilmprogramm auch per Telefon ansagen lassen.

Innovationen: von Apps bis HbbTV

Es tut sich auch einiges bei TV-Geräten und Zusatztechnologien: Manche Hersteller entwickeln Fernseher und Fernbedienungen mit Sprachausgabe weiter, damit Menschen mit Seheinschränkungen noch selbstständiger durch Bedienmenüs navigieren können. Andere Firmen optimieren Bildschirme, damit sich diese automatisch an individuelle Farbsehstörungen anpassen, z. B. mit der App „SeeColors“. Eine große Hilfe im TV-Alltag ist auch die App „Greta“. Sie wurde für barrierefreien Kinospaß entwickelt, ist aber auch für Filme im TV, bei Streamingdiensten, Video-on-Demand, auf Blu-ray oder DVD nutzbar. Das Prinzip: Sie synchronisiert sich mit der Tonspur eines Films und spielt dann zeitgleich auf dem Smartphone die passenden Untertitel oder Audiodeskriptionen ab. Auch Manuela Schemm nutzt die App. „Ich habe drei Töchter: Eine ist wie ich erblindet, zwei können sehen. Wir zwei ohne Sehvermögen stöpseln uns auf dem Sofa die Handykopfhörer ins Ohr und hören die Audiobeschreibungen, die anderen beiden sitzen daneben und schauen ganz normal den Film. Fertig ist der TV-Familienabend!“

Neue barrierefreie Fernseh-Möglichkeiten eröffnet auch die Übertragungstechnologie HbbTV: Hybrid Broadcast Broadband TV. Sie verbindet digitales Fernsehen mit dem Internet. So lassen sich während einer Sendung zusätzliche Online-Dienste oder Apps einblenden – direkt auf dem TV-Bildschirm. Zum Beispiel: Gebärdensprachvideos oder individuell gestaltete Untertitel, je nach gewünschter Position und Größe.

BR Mediathek
Folgen des Serien-Klassikers „Meister Eder und sein Pumuckl“ gibt es auch barrierefrei mit Untertiteln – und als Hörfassung mit Audiodeskription.

Manuela Schemm zieht ihr persönliches Fazit: „Insgesamt hat sich auch durch die Digitalisierung schon wahnsinnig viel getan, damit auch Menschen mit Seh- oder Hörbehinderungen an der Fernsehwelt teilhaben können. Natürlich wäre es toll, wenn eines Tages auch die Hörfilm-Auswahl noch größer wäre. Aber dass es heute z. B. mit `Dahoam is Dahoam´ eine deutsche Daily-Soap mit Audiodeskription gibt – oder eben auch `Meister Eder und sein Pumuckl´ – das war in meiner Jugend noch undenkbar.“

Man darf also gespannt sein, was die barrierefreie Medien-Zukunft bringt. An Ideen scheint es nicht zu mangeln. Mittlerweile gäbe es sogar Abhilfe, wenn eine allein lebende blinde Person die Chipstüte für den Fernsehsnack nicht findet: Die App „Be My Eyes“ verbindet sehbehinderte Menschen mit sehenden Freiwilligen in einer globalen Online-Gemeinschaft. Per Smartphone-Videoanruf können sie spontan um Unterstützung in Alltagssituationen bitten und Sehende sofort helfen. Etwa, indem sie über das Videofenster einen Blick in die fremde Küche werfen – und den Anrufer oder die Anruferin sicher zum gesuchten TV-Snack leiten.

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