Hauptinhalt
Im Gespräch mit … Professor Dr. Ulrich Heimlich
München, Januar 2017. Man sollte ja meinen, an einer Universität werde viel geredet, ja, eigentlich immerzu und über alles, was es gibt oder geben könnte. Stimmt auch. Fast. Das Thema Behinderung wird meist ausgespart. Viele Studierende mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung schweigen, z. B. aus Angst vor Diskriminierung oder einer Sonderbehandlung. Und die Lehrenden schweigen auch. Aus Unsicherheit gegenüber Menschen mit sichtbarer Behinderung – oder, weil sie gar nicht wissen, dass in ihrem Hörsaal etliche Studierende mit Behinderung sitzen, die zwar nicht sichtbar ist, sie aber einschränkt. An der LMU München sorgen Inklusionstrainings für Lehrende nun für starken Gesprächsstoff.
Über Prof. Dr. Ulrich Heimlich
Professor Dr. Ulrich Heimlich ist Inhaber des Lehrstuhls für Lernbehindertenpädagogik sowie Beauftragter für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München.
Meine Meinung
„Barrierefreiheit bedeutet für mich: Grenzen wahrzunehmen, sie als Aufgabe zu definieren und zu verschieben. Wir stoßen immer an Grenzen! Das ist kein Grund, zu resignieren.“
Unsichtbare Behinderungen
Mehr als eine Million Menschen in Bayern haben einen Grad der Behinderung von 50 oder mehr. Das bedeutet: Einer von elf Menschen hat eine Schwerbehinderung (Stand: 31.12.2016)! Das glauben Sie nicht? Kein Wunder: Sehr viele Behinderungen sind unsichtbar. Die Sehbehinderung, die Hörschädigung, die psychische Erkrankung, der Diabetes, die chronische Darmerkrankung, die Lese-Rechtschreib-Störung … Vielleicht hat Ihr Sitznachbar im Linienbus eine Schwerbehinderung, die Frau vor Ihnen in der Kassenschlange im Supermarkt, der Kollege von gegenüber – oder die Studentin in der dritten Reihe ganz links. „Ich glaube, dass vielen Kolleginnen und Kollegen noch nicht klar ist, um welche Dimension es hier geht“, stellt Professor Ulrich Heimlich fest. Er ist Beauftragter für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München.
Lieber nichts sagen …
Nicht alle betroffenen Studierenden machen ihre Behinderung zum Thema. Sie möchten nicht auf ihre Behinderung reduziert werden. Sie möchten nicht das Gefühl haben, Bittsteller zu sein. Oder den Eindruck erwecken, sie wollten sich einen Vorteil verschaffen. Oder immer wieder beweisen müssen, dass sie z. B. eine körperliche Beeinträchtigung haben, aber nicht dumm sind.
„Eine Studentin, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist, hat mir erzählt, dass sie sich mit ihren Professoren lieber per E-Mail austauscht. Wenn sie ihnen während der Sprechstunde im Rollstuhl gegenübersitzen würde, wäre das Gespräch ein anderes“, schildert Ulrich Heimlich. Denn säße die junge Frau ihnen gegenüber, würden die Professorinnen und Professoren nicht die Studentin sehen, sondern die Studentin mit Behinderung. Und zwar auch dann, wenn es gar nicht um ihre Behinderung ginge, sondern z. B. um das Thema ihrer Bachelor-Arbeit.
Mut machen, Türen zu öffnen
Auf der einen Seite gibt es also Studierende, die lieber nichts sagen. Und auf der anderen Seite Lehrende, die nicht fragen. „Es ist ein großes Problem, dass Studierende 1. einen Bedarf an Nachteilsausgleich haben, 2. ihre Rechte und die Angebote kennen – und sie 3. nicht in Anspruch nehmen“, resümiert Ulrich Heimlich. „Dagegen müssen wir dringend etwas tun.“ Um beide Seiten ins Gespräch zu bringen, gibt es an der LMU München seit 2014 das Münchner Inklusionstraining (M!T-L) für Lehrende. „Bei den Trainings erleben die Teilnehmer viele Überraschungseffekte“, stellt Ulrich Heimlich fest. „Allein die hohe Zahl von Studierenden mit Behinderung oder chronischer Erkrankung ist für viele Lehrende überraschend.“ Entstanden sind die Trainings aus einer Anregung von Studierenden der Sonderpädagogik. Sie hatten ein Angebot für interessierte Kommilitoninnen und Kommilitonen anderer Fachrichtungen entwickelt.
In der Veranstaltung erfahren die Lehrenden viel über Behinderungen, Vorurteile und Barrieren, über Beratungsangebote und den Nachteilsausgleich für Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung. Ulrich Heimlich und das Team der Beratungsstelle zeigen Videos mit Fallbeispielen und laden betroffene Studierende ein. Zum Beispiel eine Studentin mit Cochlea-Implantaten. „Man denkt, mit den Implantaten sei alles repariert“, sagt Ulrich Heimlich. „Doch von der Studentin haben wir gelernt, wie wichtig es ist, sich ihr im direkten Gespräch zuzuwenden und deutlich zu artikulieren: Sie sieht nämlich zusätzlich von den Lippen ab. Mir z. B. war nicht bewusst, dass ich relativ schnell spreche. Jetzt drossele ich mein Tempo. Das nutzt letztlich allen Studierenden!“ Kommt in Vorlesungen oder Veranstaltungen eine Höranlage zum Einsatz, wird das gesprochene Wort vom Mikrofon an die Implantate gesendet. „In diesem Fall muss man darauf achten, dass nicht durcheinander gesprochen wird und jeder Redner das Mikro nutzt.“
Allein die hohe Zahl von Studentinnen und Studenten mit Behinderung überrascht viele Lehrende.
Signalisieren: Ich bin gesprächsbereit!
Den Gesprächspartner ansehen, deutlich sprechen, nicht durcheinander reden: Oft ist es so einfach, Barrieren abzubauen. „Ich glaube, dass die Atmosphäre im Umgang miteinander viel bewirkt. Dass Lehrende signalisieren: Ich bin gesprächsbereit“, verdeutlicht Ulrich Heimlich. Im Inklusionstraining prägen sich die Lehrenden auch einen Schlüsselsatz ein: „Falls jemand von Ihnen aufgrund einer Behinderung oder chronischen Erkrankung jetzt oder später Unterstützung benötigt, wenden Sie sich doch bitte am Ende der Veranstaltung oder während meiner Sprechstunde an mich.“
Es ist ein großes Problem, dass Studierende 1. einen Bedarf an Nachteilsausgleich haben, 2. ihre Rechte und die Angebote kennen – und sie 3. nicht in Anspruch nehmen. Dagegen müssen wir dringend etwas tun.
Im persönlichen Gespräch kann dann geklärt werden, was für eine ungehinderte Teilhabe wichtig ist. Die Studentin mit einer Sehbehinderung braucht vielleicht Unterlagen in Großschrift und jemanden, der sie zu einem freien Platz begleitet. Wenn sie die Hand hebt, sollte sie nicht nur mit einer Geste aufgerufen, sondern direkt angesprochen werden. Gute Beleuchtung, besonders der Tafel, ist wichtig (übrigens nicht nur für Menschen mit Sehbehinderung). Der Student mit Sprachbehinderung möchte vielleicht seine Prüfungen lieber schriftlich statt mündlich ablegen – und unbehindert zeigen, was er kann. Oder er will sich der Herausforderung stellen. Dann ist es aber wichtig, dass er seine Antworten in Ruhe formulieren darf, in einer Atmosphäre des Zutrauens und der Gelassenheit.
Auch mit dem Prüfungsausschuss der LMU pflegen Ulrich Heimlich und seine Kolleginnen und Kollegen von der Beratungsstelle einen sehr intensiven Austausch. Denn, so Ulrich Heimlich: „Die Barrieren müssen auch in den Köpfen überwunden werden.“ Wenn alle Gremien der Universität (und alle Menschen in unserer Gesellschaft) sich beteiligen, wird inklusives Denken und Handeln eines Tages nicht mehr viele erklärende Worte brauchen.
Glossar
Nachteilsausgleich
Um einen Nachteilsausgleich beantragen zu können, müssen Studierende eine längerfristige Beeinträchtigung nachweisen, die die Kriterien einer Behinderung erfüllt. Außerdem müssen sie die Erschwernis darstellen, die sich durch die Beeinträchtigung ergibt und zu Nachteilen gegenüber ihren Mitstudierenden führt (Quelle: Deutsches Studentenwerk).