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Toiletten für alle!
München, Mai 2016. Bei diesem Ortstermin geht es ums stille Örtchen. Darüber sollte richtig laut geredet werden. Denn wer jemals ebenso dringend wie erfolglos im Umkreis von einem Kilometer eine Toilette gesucht hat (also wir alle, stimmt’s?), der sollte sich nun mal die Situation von Menschen vorstellen, die gängige (Behinderten-)Toiletten nicht benutzen können. Menschen, die trotzdem gerne am öffentlichen Leben teilnehmen würden. Die aber meist zu Hause bleiben müssen, weil sie im Umkreis von hundert oder mehr Kilometern keine einzige geeignete Toilette finden. Die Initiative „Toiletten für alle“ will Abhilfe schaffen. Unterstützt wird sie 2016 vom Bayerischen Sozialministerium.
Über David J. Offenwanger
David J. Offenwanger hat Philosophie und Jura studiert. Nach seinem Abschluss wollte er „eine Sache um ihrer selbst willen tun. Bei der Stiftung Leben pur das Projekt `Toiletten für alle´ zu übernehmen, war ein völlig logischer Schritt.“ Das Projekt betreute er bis Ende 2017. Die Stiftung setzt sich für Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen ein. Das Wissenschafts- und Kompetenzzentrum der Stiftung informiert eine breite Öffentlichkeit und bietet ein Forum für den Erfahrungsaustausch sowie die Fort- und Weiterbildung.
Meine Meinung
„Barrierefreie Angebote wie `Toiletten für alle´ eröffnen einen riesengroßen Freiraum. Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen können endlich dorthin, wo alle anderen auch ihre Freizeit verbringen.“
Über Anja Gross
Anja Gross, hier mit ihren Töchtern Mia (links) und Charlotte, ist Mutter von drei Kindern. Ihre Tochter Charlotte ist mehrfach behindert.
Meine Meinung
„Barrierefreiheit hat auch viel mit Würde zu tun.“
Was ist eine „Toilette für alle“?
Beitrag für die Menschenwürde
Wenn bei einem Menschen z. B. Windeln, Einlagen oder Katheter gewechselt werden müssen, sind gängige Behindertentoiletten nicht geeignet. „Toiletten für alle“ sind auf die Bedürfnisse von Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen zugeschnitten. Auch pflegebedürftige ältere Menschen profitieren von dem Angebot.
Zwölf Quadratmeter mit Liege und Lifter
Der Raum für eine „Toilette für alle“ sollte ca. zwölf Quadratmeter groß sein; dann kann man auch mit einem Elektrorollstuhl oder Liegendrollstuhl gut rangieren. Empfohlen wird die übliche barrierefreie Ausstattung nach DIN 18040 – u. a. eine Toilette mit Stützgriffen und Rückenlehne und ein unterfahrbares Waschbecken. Die Besonderheit ist eine Pflegeliege, höhenverstellbar und mit einem hochklappbaren Seitengitter. Mit einem Decken- oder Standlifter können Angehörige oder Assistenzkräfte einen Menschen mit Schwerbehinderung ohne großen Kraftaufwand aus dem Rollstuhl auf die Liege heben und in aller Ruhe versorgen.
Stiftung Leben pur berät an möglichen Standorten
Mögliche Standorte sind öffentlich zugängliche Gebäude, z. B. Behörden, Einkaufszentren, Museen, (Tier-)Parks, Sportstätten, Bahnhöfe, Flughäfen und Raststätten. Für Volksfeste und andere Veranstaltungen eignet sich die mobile „Toilette für alle“ im Mietcontainer. Die Idee für die Initiative „Toiletten für alle“ stammt aus England. In Deutschland wird sie von der Stiftung Leben pur vorangebracht. Als Wissenschafts- und Kompetenzzentrum berät sie alle, die eine „Toilette für alle“ einrichten wollen.
Für alle, aber nicht für jeden
Übrigens: „Toiletten für alle“ heißt, dass sie für alle Menschen geeignet sind – nicht, dass alle sie benutzen dürfen. Nur Menschen mit Behinderung bekommen z. B. den Euroschlüssel, der europaweit die Türen zu behindertengerechten sanitären Anlagen – und auch zu den „Toiletten für alle“ – öffnet.
Ein Modell einer „Toilette für alle“. Hinten links ist die Liege montiert. Der Lifter ist hier an der Decke angebracht.
Privatsphäre bitte!
Anja Gross hat drei Kinder, zwölf, elf und neun Jahre alt. Seit einer Krankheit im Kleinkindalter ist die elfjährige Charlotte schwerstbehindert. „Charlotte ist sehr agil. Sie liebt andere Kinder um sich herum, Musik, Geräusche, Trubel“, schildert ihre Mutter. Gerne würde ihre Familie mit Charlotte öfter dort sein, wo die Musik spielt und das Leben trubelt. Doch Unternehmungen scheitern auch an der Toilettenfrage. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge schildert Anja Gross einen Konzertbesuch. „Mein Mann hatte Charlotte auf dem Schoß, als er es plötzlich plätschern hörte. Die Windel war übergelaufen, mitten im Konzertsaal.“ Die Eltern flüchteten mit Charlotte auf die Toilette. Dort hielt der Vater sein Kind in einer engen Kabine mühsam hoch, während die Mutter versuchte, die Kleine frischzumachen. „Man kann einen Menschen nicht irgendwo auf den Toilettenboden legen und wickeln“, sagt Anja Gross. „Das ist doch unhygienisch und eklig. Und was ist mit der Privatsphäre?“ Der Konzertausflug ist inzwischen drei Jahre her. „Seither fahren wir nicht mehr allzu häufig weg. Man hat einfach zu wenig Möglichkeit, den Toilettenbesuch irgendwie würdevoll hinzubekommen.“
Der Bedarf wird weiter steigen
Höchste Zeit für ein Treffen mit Rainer Salz und David Offenwanger von der Stiftung Leben pur. Das Gespräch findet, wo sonst, in einer „Toilette für alle“ statt. Rainer Salz vom Stiftungsvorstand und Projektleiter David Offenwanger machen es sich auf der Liege mehr oder weniger bequem. Warum engagiert sich die Stiftung für die Toiletten? „Menschen mit komplexen Behinderungen werden von wichtigen Lebensbereichen ausgeschlossen, wenn die nötigen sanitären Einrichtungen fehlen“, sagt Rainer Salz. „Angemessene Toiletten sind ein Menschenrecht. Unsere Stiftung will die Idee verbreiten und Akteure gewinnen.“ David Offenwanger ergänzt: „`Toiletten für alle´ eröffnen eine riesengroße Freiheit. Menschen mit schweren Behinderungen können endlich auch dorthin, wo alle anderen ihre Freizeit verbringen. Und der Bedarf wird weiter stark steigen, durch den demografischen Wandel und die Zunahme von Demenzerkrankungen.“
Ortstemin im Örtchen: David Offenwanger (links) und Rainer Salz von der Stiftung Leben pur im Gespräch mit „Bayern barrierefrei“.
Unschlagbare Argumente
David Offenwanger kontaktiert deutschlandweit Behindertenbeauftragte, öffentliche Verwaltungen, Unternehmen, Betreiber von Kultur-, Freizeit- und Sporteinrichtungen. Er macht Pressearbeit und stellt „Toiletten für alle“ in sozialen Medien vor. Er ist vernetzt mit Fachleuten und der Beratungsstelle Barrierefreiheit der Bayerischen Architektenkammer. „Wir sehen es als unsere erste Aufgabe, Verständnis für die Zielgruppe und ihre Bedürfnisse zu wecken. Das ist nicht schwierig. Ich schildere einfach, wie eine Frau ihren gestandenen Mann aus dem Rollstuhl heben, auf den Boden legen und vor aller Augen wickeln muss, in einer öffentlichen Toilette oder im Park.“ Ein einziges Gegenargument hört Offenwanger häufig: „Zu uns kommen aber gar keine Menschen mit Schwerbehinderung.“ – „Wie denn auch“, antwortet er dann. „Das können sie ja nicht, solange die Toilette fehlt.“ In diesem Moment beginnen seine Gesprächspartner zu nicken.
Jedem (öffentlich zugänglichen) Neubau eine „Toilette für alle“
Ganz oben auf Offenwangers Liste stehen Neubauprojekte. Ihren Betreibern macht er klar, dass sie ohnehin nach der Barrierefrei-DIN bauen müssen. Von der barrierefreien Toilette zur „Toilette für alle“ ist es dann nicht mehr weit. Rund 10.000 Euro müssen zusätzlich investiert werden. Beim Neubau eines Gebäude eine sehr überschaubare Summe.
Die ersten „Toiletten für alle“ sind mittlerweile auf der Karte der Initiative gelistet, die meisten in Bayern, v. a. in und um München. Nicht alle Betreiber melden ihr Angebot; viele Toiletten sind geplant oder im Bau. „Wir hatten uns eine schnellere Verbreitung erhofft“, meint Rainer Salz. „Aber wenn es um Umbau oder Neubauten geht, hat man natürlich Vorlaufzeiten. Doch inzwischen merken wir, dass unsere Arbeit Früchte trägt.“ Heute kommen besonders Kommunen direkt auf das Projektteam zu. „Mit dem Wissen und der Erfahrung, die wir gesammelt haben, werden wir immer mehr gefordert werden“, freut sich Offenwanger. Ein weiterer Erfolg: Auf dem Oktoberfest 2017 soll erstmals eine „Toilette für alle“ im mobilen Container aufgestellt werden. Diesen Container können Veranstalter mieten. Er ist nicht nur ein prima Service für Menschen mit komplexer Behinderung, sondern auch ein weithin sichtbarer Werbeträger für die gute Idee.
Einfach am Leben teilhaben
„Charlotte ist heute einen Meter dreißig groß. Sie ist sehr dünn und relativ leicht. Aber mein Rücken merkt’s“, sagt Anja Gross. Charlotte wird weiter wachsen. Je mehr funktionierende Aufzüge, je mehr unverparkte Bürgersteige, je mehr „Toiletten für alle“ es gibt, umso entspannter kann ihre Familie den Alltag organisieren. Und umso intensiver kann Charlotte das tun, was sie glücklich macht und worauf sie ein Recht hat: einfach am Leben teilhaben.
„Toiletten für alle“: ein Örtchentermin in Bildern
Bayerisches Sozialministerium fördert „Toiletten für alle“
Das Bayerische Sozialministerium fördert „Toiletten für alle“ mit knapp 40.000 Euro. „Es gibt in Bayern genau sieben Toiletten für alle“, sagte Sozialstaatssekretär Johannes Hintersberger bei der Übergabe des Förderbescheids an die Stiftung Leben pur im Mai 2016. „Unser Ziel muss es sein, dass sich diese Zahl möglichst schnell erhöht.“ Hans Schöbel, Vorsitzender des Stiftungsrats, pflichtete ihm bei. Er wies darauf hin, dass der Bedarf stetig steige. Fortschritte in der Medizin retteten z. B. immer mehr Neugeborenen mit schwersten Behinderungen das Leben. Entsprechend müsse auch die Teilhabe der betroffenen Familien am Leben in der Gesellschaft gesichert werden. Die mobile „Toilette für alle“ der Stiftung Leben pur, die anlässlich der Übergabe vor dem Sozialministerium aufgestellt worden war, kam sofort zum Einsatz. Anja Gross, die mit ihren Töchtern an der Veranstaltung teilnahm, konnte Charlotte in aller Ruhe frischmachen.
... und bietet selbst eine „Toilette für alle“
Das Ministerium hat selbst eine „Toilette für alle“ eingerichtet. Das Besondere: Die Toilette ist jeden Tag rund um die Uhr für Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen und ihre Begleitperson geöffnet – kostenfrei und ohne Euroschlüssel. Das Bayerische Sozialministerium hat seinen Sitz in der Münchner Maxvorstadt. Barrierefrei zugänglich ist das Gebäude über die Winzererstraße 9.
Sozialstaatssekretär Johannes Hintersberger (rechts) übergab einen Förderbescheid über knapp 40.000 Euro an Dr. Nicola Maier-Michalitsch aus dem Vorstand und Hans Schöbel vom Rat der Stiftung Leben pur.
Hans Schöbel unterstrich, dass der Bedarf an „Toiletten für alle“ schon jetzt groß sei und noch erheblich steigen werde: „Sie realisieren ein Grundbedürfnis des Lebens.“
„Foto bitte!“ Für Anja Gross´ Tochter Mia ging Sozialstaatssekretär Johannes Hintersberger gern in die Knie. Die mobile „Toilette für alle“ fand auch Mia ziemlich spannend.
„Charlotte ist ja hier die Hauptperson!“ Die Hauptperson verbrachte das Treffen vor dem Sozialministerium warm eingekuschelt auf Mamas Schoß.
Glossar
Euroschlüssel
In den frühen 80er-Jahren gab es schon etliche Behindertentoiletten. Sie waren jedoch für jedermann zugänglich und oft in entsprechend schlechtem Zustand. Der CBF Darmstadt e. V., ein Selbsthilfeverein für Menschen mit Behinderung, entwickelte daraufhin den Euroschlüssel und überzeugte zunächst Betreiber von Autobahn-Raststätten, passende Schließanlagen zu installieren. Inzwischen gibt es europaweit mehr als 12.000 Toiletten, die nur mit Euroschlüssel zugänglich sind. Erhältlich ist der Euroschlüssel beim CBF gegen Vorlage des deutschen Schwerbehindertenausweises mit Merkzeichen aG, B, H, oder BL oder Merkzeichen G und 70, 80, 90 oder 100.