Claudia Michels

Zu Besuch bei den Netzwerkfrauen Bayern

München, Januar/Dezember 2016

Inzwischen hat sich herumgesprochen: Menschen mit Behinderung stoßen auf allerhand Barrieren. Weniger bekannt ist: Für Frauen sind diese Barrieren oft noch deutlich höher als für Männer. Das Bayerische Behindertengleichstellungsgesetz hat schon 2003 festgestellt, dass die besonderen Belange von Frauen mit Behinderung zu berücksichtigen sind. Die Netzwerkfrauen Bayern haben es sich zur Aufgabe gemacht, beharrlich an Barrieren zu ruckeln. Dabei sind Kopfarbeit und Wurzelwerk gefragt. Lesen Sie selbst.

Über Ute Strittmatter

Ute Strittmatter kam mit einer spinalen Muskelatrophie zur Welt. Sie wuchs gemeinsam mit Nachbarskindern ohne Behinderung auf und besuchte eine inklusive Schule in München. Nach ihrem FH-Abschluss in Sozialpädagogik schrieb Ute Strittmatter mehr als 80 Bewerbungen. Nachdem sie mehr als 80 Absagen bekommen hatte, entschied sie sich, an der Universität weiter zu studieren. Parallel arbeitete sie für die Vereinigung Integrationsförderung. Als frisch gebackene Magistra fand sie ihren Traumjob: Seit der Gründung im Jahr 2000 leitet sie das Netzwerk von und für Frauen mit Behinderung.

Nachtrag:
Ute Strittmatter ist Ende 2016 plötzlich und unerwartet verstorben. Wir sind tief betroffen über den Tod eines beeindruckenden, zutiefst liebenswürdigen Menschen und einer leidenschaftlichen Aktivistin.

Claudia Michels

Über Esther Hoffmann

Esther Hoffmann kam 2005 über ein Praktikum zu den Netzwerkfrauen. Heute hat sie einen Außenarbeitsplatz der Stiftung Pfennigparade im Netzwerk-Büro. Sie ist eine der fünf Netzwerk-Sprecherinnen. Als Peer-Counselorin berät und begleitet sie u. a. Mädchen und junge Frauen sowie Menschen mit Behinderung, die Kinder haben (möchten). Esther Hoffmann sitzt im Rollstuhl. 18 Jahre lang lebte sie in Wohn- und Internatsgruppen; seit 2007 lebt sie selbstbestimmt in einer eigenen Wohnung und organisiert ihren Alltag mit Assistenzkräften.

Claudia Michels

Weniger Barrieren für Frauen mit Behinderung

Der kleine Unterschied: 130 Prozent

Es gibt viele Interessensvertretungen für Menschen mit Behinderung. Warum brauchen Frauen eine eigene? „Im Vergleich mit betroffenen Männern erleben Frauen mit Behinderung noch mehr Ausgrenzung, Ablehnung und Barrieren“, schildert Ute Strittmatter. Sie hat jede Menge Beispiele parat. „Männer haben meist kein Problem, wegen ihrer Behinderung eine Haushaltshilfe genehmigt zu bekommen. Bei Frauen wird oft erwartet, dass sie den Haushalt selbst schaffen.“ Während zwei Drittel der Männer mit Behinderung in einer Partnerschaft lebten, sei es bei den Frauen gerade mal jede vierte. Und den Vater, im Rollstuhl und mit Baby auf dem Schoss, finden viele Menschen toll. Die Mutter mit Behinderung dagegen verantwortungslos. „Frauen mit Behinderung“, fasst Strittmatter zusammen, „müssen 130 Prozent geben.“

Ich bin nicht „der Rollstuhl“, sondern eine Frau!

Doch was heißt das überhaupt: Frau mit Behinderung? Ihre Identität als Frau zu finden, ist für alle Mädchen harte Arbeit. Mädchen mit Behinderung erleben den Weg oft als Sackgasse. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Vorzügen und Beeinträchtigungen reicht weit über Babyspeck- und Pickelkummer hinaus. In ihrer Unsicherheit werden sie bestätigt durch eine Umwelt, die sie nicht als junge Frauen behandelt, sondern „geschlechtsneutral“. Von Eltern, die ihre Töchter z. B. vor sexuellen Übergriffen schützen wollen. Von Außenstehenden, die nur die – körperliche, geistige oder seelische – Beeinträchtigung wahrnehmen und die Person übersehen.

In ihrer Arbeit setzen die Netzwerkfrauen deshalb auch bei den Mädchen an. Esther Hoffmann betreut seit Ende 2015 eine Mädchengruppe als Moderatorin und Ratgeberin. Sie lädt weibliche Vorbilder ein – Frauen mit Behinderung, die Karriere machen, Partnerschaften haben, Kinder bekommen. Im Vergleich zu ihrer eigenen Jugend stellt sie fest: „Ob behindert oder nicht: Die Mädels heute sind fortschrittlicher und selbstbewusster. Das liegt auch daran, dass sich die Eltern heute viel besser z. B. über die Frühförderung und das Empowerment informieren können.“ Auch das Internet ist eine Quelle für Selbstbewusstsein. Junge Bloggerinnen mit Behinderung, stark im Leben und im Ausdruck, sind aktuelle Vorbilder.

Empowerment

Maßnahmen, die die Selbstbestimmung und Selbstständigkeit eines Menschen fördern („Stärken stärken“).

Von der Beratung bis zur politischen Arbeit: ausgezeichnet

Nicht nur in der Mädchengruppe setzen die Netzwerkfrauen auf den „Peer Support“: den Austausch von Wissen und Erfahrung, die Beratung und die Unterstützung nicht von oben herab, sondern untereinander. Wer könnte Frauen mit Behinderung besser beraten als eine Frau mit Behinderung? Entsprechend demokratisch sind sie organisiert. Zweimal pro Jahr trifft sich das Plenum, also alle Frauen und Mädchen, die dem Netzwerk angehören. Sie bestimmen, um welche Themen sich das Netzwerk in den jeweils folgenden Monaten und Jahren kümmern soll. Fünf Netzwerk-Sprecherinnen betreuen die Öffentlichkeitsarbeit und die Arbeitsgruppen. Das Netzwerkbüro ist die zentrale Anlaufstelle und stimmt alle Aktivitäten aufeinander ab. Das Arbeitsfeld der Netzwerkfrauen ist riesig. Es umspannt die Beratung von betroffenen Frauen und Mädchen genauso wie die politische Arbeit in zahlreichen Gremien und im Bayerischen Landtag.

Auszeichnungen wie der Bayerische Sozialpreis und der Anita-Augspurg-Preis der Stadt München künden vom Engagement und den Erfolgen der Netzwerkfrauen.

Ute Strittmatter

Ein Zeichen setzen für Barrierefreiheit: Ende 2015 übergab Michael Höhenberger, Amtschef des Bayerischen Sozialministeriums, das Signet „Bayern barrierefrei“ an die Netzwerkfrauen. Anlass war das 15-jährige Bestehen des Netzwerks. Stellvertretend nahmen Lucy Wilke (vorne) und Kika Wilke (Mitte), Musikerinnen von „blind & lame“, sowie Nina Ruge, Schirmherrin der Netzwerkfrauen Bayern, das Signet entgegen. Michael Höhenberger lud die Netzwerkfrauen ein, auf beispielhafte barrierefreie Angebote aufmerksam zu machen – ob Laden oder Bankfiliale, Lokal oder Konzertsaal. Ein barrierefreies Bayern, betonte Höhenberger, brauche eine breite gesellschaftliche Beteiligung.

Claudia Michels

„Weibsbilder von nebenan – Diagnose: 100 % Frau“: In einem Porträtband der Netzwerkfrauen stellen Autorin Sonja Berthold und Fotograf Manfred Baumann tolle Frauen mit Behinderung vor. Die Umhängetasche der Netzwerkfrauen zeigt: Im Rollstuhl sitzen keine geschlechtslosen Wesen.

Als ich bei den Netzwerkfrauen angefangen habe, dachte ich beim Stichwort Barrierefreiheit an Gebäude ohne Stufen. Heute ist der Begriff sehr viel weiter gefasst und bezieht sich auf alle Lebensbereiche. Ich persönlich ärgere mich am meisten über Barrieren in Köpfen.

Ute Strittmatter

Es ist normal, dass eine Frau ein Baby haben möchte. Oder?

Wer Barrieren in Köpfen abbauen will, muss an die Wurzeln gehen. „Ich bin mit vielen ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschülern befreundet. Von denen stellt sich keiner auf einen Behindertenparkplatz“, veranschaulicht Ute Strittmatter. Wer als Kind kapiert, dass Barrieren die beste Freundin oder den besten Freund ausschließen, findet es als Erwachsener ganz normal, barrierefrei zu planen, zu bauen, zu denken. Z. B. auch in seiner Arztpraxis! Weil es kaum Frauenarztpraxen gibt, die auf Patientinnen mit Behinderung eingestellt sind, haben die Netzwerkfrauen die Einrichtung von zwei gynäkologischen Ambulanzen – in Dachau und Erlangen – angestoßen.

Die Ambulanzen sind nicht nur baulich und technisch barrierefrei ausgestattet. Hier hat man auch ausreichend Zeit. „In anderen Praxen kann die Ärztin oder der Arzt gerade mal sieben Minuten pro Patientin abrechnen. Das reicht bei einer Frau mit Mobilitätseinschränkung nicht mal fürs Ausziehen und den Wechsel auf die Untersuchungsliege“, macht Ute Strittmatter klar. „In der Dachauer Ambulanz haben die Ärztinnen und Ärzte eine Stunde Zeit.“ Und: Sie haben Erfahrung mit Frauen mit Behinderung. Dazu gehört auch, es ganz normal zu finden, dass eine Frau mit Behinderung ein Kind bekommen möchte. Nicht nur Frauen mit Behinderung reisen aus ganz Bayern zum Arztbesuch nach Dachau. Auch immer mehr Ärztinnen und Ärzte interessieren sich für Barrierefreiheit in der Praxis und im Kopf. Die Dachauer Ambulanz ist heute ein bayernweites Kompetenzzentrum. Für das Frauennetzwerk gilt dasselbe.

Auch wenn viele Mühlen langsam und knirschend mahlen, die Netzwerkfrauen verbuchen immer wieder Erfolge. Unterstützt werden sie dabei u. a. vom Bayerischen Sozialministerium, das das Netzwerkbüro und viele Projekte finanziell fördert. Ute Strittmatter: „Das Wissen um die Situation und die Bedürfnisse von Frauen mit Behinderung ist oft noch gering. Aber wir treffen zunehmend auf Interesse und Offenheit.“

Erfahren Sie mehr über die Spezialambulanz für Mädchen und Frauen mit Behinderung der Frauenklink Erlangen in unserer Reportage „Barrierefrei zur Früherkennung“.

Claudia Michels

„Ich wünsche mir Kleidung, die warm und praktisch ist, gut sitzt – und auch noch gut aussieht. Egal, wie mein Körper geformt ist.“ Beitrag aus dem Adventskalender 2015 der Netzwerkfrauen.

Barrierefreiheit bedeutet für mich: Alle Menschen können am Leben teilhaben. Jede Behinderung ist individuell; deshalb braucht auch jeder Mensch andere Möglichkeiten. Ich lasse mich nicht gerne schieben, sondern fahre lieber selbstbestimmt im Elektrorollstuhl. Mich nerven besonders kaputte Aufzüge – und dass man nicht überall barrierefrei mit öffentlichen Verkehrsmitteln hinkommt.

Esther Hoffmann

Linktipps

2016 wollen die Netzwerkfrauen ihre Website komplett barrierefrei gestalten und dann auch ein Forum eröffnen. Jede Menge Infos und alle Ansprechpartnerinnen findet frau dort schon jetzt – und zum Austausch lädt die Facebook-Seite der Netzwerkfrauen ein:

Die Universität Bielefeld hat im Auftrag des Bundesfamilienministeriums die Situation von Frauen mit Behinderung untersucht. Sie belegt u. a., dass Frauen mit Behinderung sehr oft sexuelle Gewalt erfahren. Aus diesem Grund hat die LAG Selbsthilfe begonnen, Frauen aus Werkstätten und Wohnheimen für Menschen mit Behinderung zu Frauenbeauftragten weiterzubilden. Sie setzen sich vor Ort für andere Frauen mit Behinderung ein. Auch dieses Projekt wird vom Bayerischen Sozialministerium gefördert.

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