Der kleine Unterschied: 130 Prozent
Es gibt viele Interessensvertretungen für Menschen mit Behinderung. Warum brauchen Frauen eine eigene? „Im Vergleich mit betroffenen Männern erleben Frauen mit Behinderung noch mehr Ausgrenzung, Ablehnung und Barrieren“, schildert Ute Strittmatter. Sie hat jede Menge Beispiele parat. „Männer haben meist kein Problem, wegen ihrer Behinderung eine Haushaltshilfe genehmigt zu bekommen. Bei Frauen wird oft erwartet, dass sie den Haushalt selbst schaffen.“ Während zwei Drittel der Männer mit Behinderung in einer Partnerschaft lebten, sei es bei den Frauen gerade mal jede vierte. Und den Vater, im Rollstuhl und mit Baby auf dem Schoss, finden viele Menschen toll. Die Mutter mit Behinderung dagegen verantwortungslos. „Frauen mit Behinderung“, fasst Strittmatter zusammen, „müssen 130 Prozent geben.“
Ich bin nicht „der Rollstuhl“, sondern eine Frau!
Doch was heißt das überhaupt: Frau mit Behinderung? Ihre Identität als Frau zu finden, ist für alle Mädchen harte Arbeit. Mädchen mit Behinderung erleben den Weg oft als Sackgasse. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Vorzügen und Beeinträchtigungen reicht weit über Babyspeck- und Pickelkummer hinaus. In ihrer Unsicherheit werden sie bestätigt durch eine Umwelt, die sie nicht als junge Frauen behandelt, sondern „geschlechtsneutral“. Von Eltern, die ihre Töchter z. B. vor sexuellen Übergriffen schützen wollen. Von Außenstehenden, die nur die – körperliche, geistige oder seelische – Beeinträchtigung wahrnehmen und die Person übersehen.
In ihrer Arbeit setzen die Netzwerkfrauen deshalb auch bei den Mädchen an. Esther Hoffmann betreut seit Ende 2015 eine Mädchengruppe als Moderatorin und Ratgeberin. Sie lädt weibliche Vorbilder ein – Frauen mit Behinderung, die Karriere machen, Partnerschaften haben, Kinder bekommen. Im Vergleich zu ihrer eigenen Jugend stellt sie fest: „Ob behindert oder nicht: Die Mädels heute sind fortschrittlicher und selbstbewusster. Das liegt auch daran, dass sich die Eltern heute viel besser z. B. über die Frühförderung und das Empowerment informieren können.“ Auch das Internet ist eine Quelle für Selbstbewusstsein. Junge Bloggerinnen mit Behinderung, stark im Leben und im Ausdruck, sind aktuelle Vorbilder.