Anja Prestel

Barrierefrei zur Früherkennung

Erlangen, Juni 2016 

Barrierefreiheit kann Leben retten, z. B. in Arztpraxen und Kliniken. Wer nicht reinkommt oder nicht die passenden Maße für den Untersuchungsstuhl mitbringt, verpasst womöglich die entscheidende Untersuchung zur Früherkennung. In der Frauenklinik des Universitätsklinikums Erlangen ist Barrierefreiheit Programm. An Menschen mit Behinderung wird dabei genauso gedacht wie an schwerkranke Patientinnen und ältere Menschen.

Über Dinah Radtke

Dinah Radtke macht sich seit Jahrzehnten für die Rechte von Menschen mit Behinderung stark. Dafür wurde sie u. a. mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Anja Prestel

Über Professor Dr. Matthias W. Beckmann

Professor Dr. Matthias W. Beckmann leitet die Frauenklinik des Universitätsklinikums Erlangen. Er gestaltet seine Klinik so, dass alle Menschen ihr Ziel erreichen: Menschen mit Behinderung, schwerkranke Patientinnen, ältere Menschen.

Anja Prestel

Über Dr. Janina Hackl

Dr. Janina Hackl ist Funktionsoberärztin an der Frauenklinik des Universitätsklinikums Erlangen. Sie arbeitet seit zwei Jahren in der barrierefreien Ambulanz.

Anja Prestel

Reinkommen ist alles

„Es gibt nur wenige Praxen, die zugänglich sind für Menschen mit Gehbehinderung“, bedauert Dinah Radtke, Menschenrechtsvertreterin und wegen einer spinalen Muskelatrophie selbst Rollstuhlfahrerin. Die Folge: „Menschen mit Gehbehinderung können sich ihren Arzt oft nicht selbst aussuchen. Wir müssen die Praxis nehmen, die wir erreichen können.“ Wählerisch sein dürfen Menschen mit Behinderung nicht. Reinkommen ist alles. Auch wenn die Praxis keine barrierefreie Toilette hat oder die Untersuchungsmöbel und -geräte nur für Menschen mit Normmaßen und durchschnittlicher Beweglichkeit geeignet sind. Bei einer schweren Erkrankung eine zweite Meinung einholen? Das bedeutet: Wieder nachforschen, telefonieren, um eine passende Praxis zu finden, nicht allzu weit entfernt. Dinah Radtke verweist auf die UN-Behindertenrechtskonvention. Die Staaten, die sie unterzeichnet haben, erkennen das Recht von Menschen mit Behinderung auf ein erreichbares Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung an.

Dinah Radtke sieht durchaus die Schwierigkeiten vieler niedergelassener Ärzte. Befindet sich die Praxis in einem Altbau oder sind die Räume ungünstig geschnitten, nützt der gute Wille nichts. Und selbst wenn die Praxis barrierefrei zugänglich ist: „Es geht auch immer um die Minuten, die nicht bezahlt werden.“ Die Minuten, bis eine Patientin mit Behinderung ausgezogen und gut auf dem Untersuchungsstuhl gelagert ist. Die Minuten, die sich addieren, wenn eine Patientin eine Spastik hat, also einen Krampf. Auch die Minuten und vor allem die Erfahrung, die eine Ärztin oder ein Arzt braucht, sich mit dem Körper eines Menschen vertraut zu machen, der nicht dem Durchschnitt entspricht. Die Minuten fürs genaue Zuhören und Hinschauen, wenn sich z. B. die Symptome einer akuten Erkrankung hinter denen der Behinderung verstecken.

Eines Tages sprach Dinah Radtke Matthias Beckmann an, den Direktor der Frauenklinik des Universitätsklinikums Erlangen. Beide haben Hunde, kannten einander vom Gassigehen. Matthias Beckmann hörte zu. „Dann ging alles ganz schnell“, erzählt Radtke. In Zusammenarbeit mit dem Zentrum für selbstbestimmtes Leben Behinderter e. V. – ZSL Erlangen und den Netzwerkfrauen Bayern, entwickelte die Klinik das Konzept für eine barrierefreie gynäkologische Ambulanz. „Sie wurde eröffnet, noch bevor die neuen, barrierefreien Aufzüge und die barrierefreie Toilette eingebaut wurden. So lange wurde improvisiert.“

Aha!

Der Anteil barrierefreier Arztpraxen wird sich weiterhin stetig erhöhen. Werden heute Ärztehäuser oder andere Gebäude mit Einrichtungen des Gesundheitswesens errichtet, besteht in Bayern die gesetzliche Verpflichtung zum barrierefreien Bauen

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung bietet auf ihrer Informationsplattform eine bundesweite Suche nach barrierefreien Arzt- und Psychotherapiepraxen an. Über „Weitere Suchkriterien“ kann nach „Barrierefreiheit“ gefiltert werden. 

Barrierefreie Praxen sichern mein Recht auf Gesundheit – und auf Gesundheitsdienstleistungen ohne Diskriminierung.

Dinah Radtke

Irgendwann stehen die meisten Menschen vor Barrieren

Barrierefreiheit. „Ein dummes Wort“, zürnt Klinikdirektor Beckmann. „Das versteht doch niemand.“ Seine Umschreibung: „Jeder Mensch hat das Recht darauf, behandelt zu werden – wie alle anderen auch.“ Und damit ist er auch schon beim Kern seines Themas. „Barrierefreiheit ist nicht nur für Menschen mit Behinderung wichtig!“ Stimmt. Auch Menschen, die von einer akuten Erkrankung oder nach einer Operation geschwächt oder eingeschränkt sind, stoßen sich oft an Barrieren. Ganz zu schweigen von älteren Menschen. „Stellen Sie sich vor: Ein Leben lang konnten Sie immer zu Ihrem niedergelassenen Arzt gehen. Aber irgendwann kommen Sie die Treppe nicht mehr hoch, zum Hausarzt, zum Augenarzt oder zur Praxis fürs Mammografie-Screening. Oft schämen sich alte Menschen ob ihrer Hilflosigkeit und bitten nicht um Unterstützung.“

Erst die Ambulanz, dann die gesamte Klinik

Matthias Beckmann hat deshalb zuerst eine barrierefreie Ambulanz eingerichtet und sich dann sein gesamtes Gebäude vorgeknöpft. „In meinem Altbau hatte ich Glück“, sagt er. Ist nicht Barrierefreiheit in bestehenden Gebäuden besonders schwierig umzusetzen? „In unserem Fall nicht. Die Räume sind größer, deshalb konnten wir z. B. die Bäder größer anlegen, damit Patientinnen mit Rollstuhl hineinkommen können und auch ein Toilettenstuhl Platz hat. Inzwischen sind etwa ein Drittel unserer Zimmer rollstuhlgerecht.“ Menschen mit Gehbehinderung kommen stufenlos ins Gebäude. Auch barrierefreie Aufzüge gibt es inzwischen. Deren Türen öffnen sich automatisch; die Bedientasten sind so niedrig angebracht, dass man sie auch vom Rollstuhl aus bequem erreicht. Und nicht nur die Ambulanz im dritten Stock ist barrierefrei, sondern auch Untersuchungsräume im Erdgeschoss mit Röntgen- und Mammografie-Geräten und dem Computertomografen.

Jeder Mensch hat das Recht darauf, behandelt zu werden – wie alle anderen auch.

Professor Dr. Matthias W. Beckmann

In der barrierefreien Ambulanz führt die Patientin Regie

Wie sieht eine barrierefreie gynäkologische Ambulanz aus? Auf den ersten Blick wie jede andere Frauenarztpraxis. Auf den zweiten auch. Die Erlanger Ambulanzräume sind nicht besonders groß. Doch sie bieten so viel Platz, dass Rollstuhlfahrerinnen rangieren und direkt neben dem Untersuchungsstuhl „parken“ können. Der Stuhl ist vielfach verstellbar; die Beinstützen können auch abgebaut werden. Eine barrierefreie Toilette liegt im selben Stockwerk. Genauso wichtig wie der barrierefreie Zugang ist der Faktor Zeit. „Wir haben an einem Nachmittag höchstens vier Patientinnen“, schildert Funktionsoberärztin Janina Hackl. „Das bedeutet: Wir können uns die Zeit nehmen, die wir für ein ausführliches Gespräch und die Untersuchung brauchen – bis zu eineinhalb Stunden pro Patientin.“ Oft, ergänzt Matthias Beckmann, schickten niedergelassene Ärztinnen und Ärzte ihre Patientinnen auch dann in die Ambulanz, wenn ihre eigene Praxis halbwegs barrierefrei sei. „Die Untersuchung einer Frau mit Behinderung dauert 45 Minuten, das ist für sie zu lang.“

In einer barrierefreien Ambulanz führen die Patientinnen Regie. Ich lerne von ihnen, was möglich ist.

Dr. Janina Hackl

Schon der erste Kontakt soll den Patientinnen Vertrauen geben. „Barrierefreiheit beginnt für uns, wenn eine Patientin anruft, um einen Termin zu vereinbaren. Die Schwestern nehmen sich auch für die Telefonate Zeit, erklären alle Abläufe, beantworten alle Fragen“, sagt Janina Hackl.

Bitte ausziehen, hinlegen, dies und das tun: Patientinnen sind es gewohnt, dass ihre Ärztin oder ihr Arzt den Ablauf bestimmen. In der barrierefreien Ambulanz führt die Patientin Regie. Sie weiß, was sie selbst kann und wobei sie Hilfe braucht. Sie weiß am besten, wie der Transfer vom Rollstuhl auf den Untersuchungsstuhl klappt und wie sie gelagert werden sollte. Zuhören und lernen, lautet deshalb die Devise. Bei manchen Körperbehinderungen ist eine Untersuchung nur eingeschränkt möglich. „Wir fragen die Patientin, was für sie am besten ist“, beschreibt Janina Hackl. Und dann tun wir alles, was wir können.“

Auch Patientinnen mit geistiger Behinderung kommen in die Ambulanz. Auch für sie zählen die Erfahrung des Teams und der großzügige Zeitrahmen. „Für uns ist es selbstverständlich, dass wir mit der Patientin sprechen, nicht über ihren Kopf hinweg mit Angehörigen oder Betreuern“, unterstreicht Janina Hackl. „Wir gehen ganz behutsam vor und erklären alles gut – z. B. auch mit Hilfe von Bildern.“

Barrierefreie Praxen können Leben retten. „Ich hatte eine Patientin, die jahrelang nicht bei der Krebsvorsorge war. Und zwar einfach deshalb, weil sie keinen Arzt gefunden hat, bei dem das für sie möglich war“, erinnert sich Janina Hackl. „Bei uns konnte sie endlich die Untersuchung machen.“ War alles in Ordnung? „Ja, zum Glück!“

Adressen & Infos

Frauenklinik Erlangen

Bundesweite Online-Suche nach barrierefreien Arzt- und Psychotherapiepraxen

Die bundesweite Online-Arztsuche der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in Deutschland führt Patientinnen und Patienten direkt zu einer geeigneten Arztpraxis oder Psychotherapiepraxis. Bei der Suche können Sie nicht nur nach Fachrichtung, Postleitzahl und Fremdsprache filtern, sondern auch nach Kriterien der Barrierefreiheit. Zum Beispiel danach, ob die Untersuchungsstühle und Liegen in einer Praxis höhenverstellbar sind, ob ein rollstuhlgeeignetes WC vorhanden ist oder ob die Kommunikation mittels Gebärdensprache möglich ist. Übrigens: Auch über den ambulanten Notfalldienst informiert das Portal.

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