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Im Gespräch mit … Judith Schmohl
Regensburg, April 2016. Zehntausende Gäste, tausend kleine und große Programmpunkte: Der Deutsche Katholikentag ist eine Mammutveranstaltung auf Wanderschaft. Alle zwei Jahre findet er an einem anderen Ort statt. Jeder Ort bietet andere Bedingungen und Herausforderungen für das lokale Organisationsteam. Judith Schmohl war beim 99. Deutschen Katholikentag 2014 in Regensburg verantwortlich für die Barrierefreiheit. Ein Mammut-Mammut-Projekt!
Über Judith Schmohl
Nach ihrem Studium der Erwachsenenbildung arbeitete Judith Schmohl bei einem Bildungsträger in München. Ein interessanter Job. Doch noch lieber wollte sich Judith Schmohl im sozialen Bereich engagieren, mit Menschen arbeiten. Als sie die Chance bekam, sich in der Geschäftsstelle des Katholikentags in Regensburg um das Thema Barrierefreiheit zu kümmern, griff sie zu. Ein Jahr lang bereitete sie mit ihrem Team die Angebote für Menschen mit Behinderung vor. „Anschließend war ich urlaubsreif und wollte so etwas nie wieder machen. Heute sehe ich das anders: Ich wäre wieder mit dabei!“
Meine Meinung
„Unsere Umwelt wäre dann barrierefrei, wenn sich kein Mensch mehr Gedanken darüber machen müsste, ob er einen Ort besuchen oder an einer Veranstaltung teilnehmen kann.“
Katholikentag barrierefrei oder: Alles lässt sich planen. Nur das Wetter nicht …
Kleine Ironie von Wetterapostel Petrus? Beim Abschlussgottesdienst kam jedenfalls endlich die Sonne raus. Vorher hatte es geregnet, geschüttet, gegossen. Tagelang. Als ob es nicht schon schwierig genug wäre, eine Veranstaltung für zehntausende Menschen barrierefrei zu gestalten. Dafür zu sorgen, dass alle Gäste alle Veranstaltungsorte einfach erreichen können, egal, ob sie mit Gehstock, Rollator oder im Rollstuhl unterwegs sind, ein müdes Kind im Arm tragen oder einen Buggy schieben. In einer Stadt voll alter Gemäuer, denkmalgeschützter Bauten, quasi historischer Barrieren. Als im letzten Moment die Wolkendecke aufriss, haderte Judith Schmohl trotzdem nicht, sondern genoss einfach das bunte Miteinander im Sonnenschein. Schließlich hatte alles ziemlich gut geklappt: „93 Prozent aller Orte waren erreichbar für Menschen im Rollstuhl. Und auch Menschen mit Seh-, Hör- oder Lernbehinderung konnten barrierefrei an vielen Veranstaltungen teilnehmen.“
Typisch für den Katholikentag 2014 in Regensburg: Regenschirme, Regenschirme, Regenschirme …
… und ein Team, das auch im Dauerregen für gute Orientierung und barrierefreies Miteinander sorgte.
Was ist das eigentlich: ein Katholikentag?
Der Katholikentag ist die größte Laienveranstaltung der katholischen Kirche in Deutschland. Er ist stetig auf Tour; alle zwei Jahre findet er an einem anderen Ort statt. Das bedeutet: Die Erfahrungsberichte des Organisationsteams für den Mannheimer Katholikentag 2012 waren für die Regensburger zwei Jahre später natürlich Pflichtlektüre. Doch weil sich die Infrastruktur und die Veranstaltungsräume von Ort zu Ort unterscheiden, müssen viele Lösungen immer wieder neu erfunden werden. Was allen Katholikentagen gemeinsam ist: Fünf Tage lang wird vorgetragen und diskutiert, gebetet und meditiert, gesungen und gefeiert – in kleinen Räumen, großen Hallen, unter freiem Himmel. Die Weltpolitik ist genauso Thema wie die Zukunft der Kirche in Deutschland. Verschiedene Zentren im Veranstaltungsort sind z. B. der Familie, Frauen und Männern, Jugendlichen, der Entwicklungspolitik oder dem Miteinander der Religionen gewidmet. Zehntausende Einzelpersonen und Gruppen reisen von überall her an und quartieren sich als registrierte Dauerteilnehmer in Privatunterkünften, Jugendherbergen oder Turnhallen ein. Hinzu kommen jeden Tag tausende Besucherinnen und Besucher aus der Region, die einzelne Angebote wahrnehmen.
Vom Gottesdienst bis zur Tanzperformance: Das Miteinander wird auf Katholikentagen auf ganz unterschiedliche Weise gelebt und gefeiert.
Dazu gehört natürlich, dass Menschen mit Behinderung nicht nur (überall) zuschauen, sondern sich auch aktiv beteiligen können.
Brücken bauen
„Mit Christus Brücken bauen“ war das Motto des Regensburger Katholikentags. „Mit Christus barrierefrei Brücken bauen“, fügten Judith Schmohl und ihr Team hinzu. Die erste Brücke schlugen sie im Jahr vor der Veranstaltung. „Wir hatten einen Beirat aus Menschen mit Behinderung und Fachleuten, die uns zum Thema Barrierefreiheit ortskundig beraten haben. Von den Maltesern bis zur Katholischen Jugendfürsorge, vom Behindertenbeirat der Stadt bis zum Blinden- und Sehbehindertenbund.“ Gemeinsam machten sie sich mit den Anforderungen an eine barrierefreie Umgebung, dem Programm des Katholikentags und den Gegebenheiten an den vielen großen und kleinen Veranstaltungsstätten vertraut. „Unser Ziel war es, den Katholikentag für Menschen mit Behinderung nicht nur zugänglich zu machen, sondern interessant zu gestalten. Und zwar für Menschen mit unterschiedlichsten Formen von Behinderung.“
Nicht nur zugänglich, sondern auch interessant
Es ging also nicht nur um logistische Fragen (Wie organisiert man einen Shuttle-Service im Großformat? Wie viele Leih-Rollatoren und -Rollstühle sollten zur Verfügung stehen? Wie müssen Ruheräume und Toiletten für Menschen mit Schwerbehinderung ausgestattet sein?), sondern auch um inhaltliche. Wie wird aus einem Treffpunkt mit Kaffee und Kuchen ein inklusives Café, das Menschen mit und ohne Behinderung zur Begegnung einlädt? Wie gestaltet man einen Katholikentag für Menschen mit geistiger Behinderung zum bereichernden Erlebnis? Welche Programmpunkte eignen sich für Familien mit kleinen Kindern? Nicht alle 1.000 Einzelveranstaltungen können von Gebärdensprachdolmetschenden begleitet werden. Wie entscheidet man, welche Angebote für gehörlose und hörbehinderte Menschen besonders attraktiv sind? Auch hier wurde der Beirat aktiv und unterstützte das Team mit Vorschlägen.
Teilhabe beginnt mit Kommunikation
Ein Katholikentag beginnt schon lange vor dem Eröffnungsgottesdienst. Nämlich dann, wenn sich die Website allmählich mit Infos füllt. Wenn die Einladungen verschickt werden, die ersten Anmeldungen eintrudeln, die Belegungslisten der Gemeinschaftsquartiere länger und länger werden. Zunächst wurden also die Einladungsfolder in Leichte Sprache übersetzt, später Liederhefte und Gebete. Das Katholikentagsgebet wurde in Brailleschrift für blinde Menschen aufgelegt, Stadtpläne und Infomaterialien zur Barrierefreiheit gedruckt, ungezählte Hinweisschilder vorbereitet. Für blinde Menschen wurden CDs eingelesen, die CD-Hüllen in Braille beschriftet. Dann nahm sich das Team die Kommunikation während des Katholikentags vor. „In denkmalgeschützten Bauten ist es oft schwierig, Induktionsschleifen zu verlegen, über die Menschen mit Hörgerät oder Cochlea-Implantat Gespräche verfolgen können“, erinnert sich Judith Schmohl und verweist dezent auf „harte Verhandlungen“ mit den Denkmalschützern.
Judith Schmohl spricht viel von Teamwork. Kein Wunder: Teamwork ist Voraussetzung für Barrierefreiheit. Denn wie soll einer wissen, was der andere für seine Teilnahme und Teilhabe braucht – wenn er ihn nicht fragt?
Gebärdensprachdolmetschende übersetzen Lautsprache für gehörlose Menschen. Bei größeren Veranstaltungen kann man die Dolmetscherinnen und Dolmetscher filmen und ihre Gebärden groß auf Leinwand übertragen. Doch wie können z. B. ältere, schwerhörige Menschen (die nicht die Gebärdensprache gelernt haben) Ansprachen, Diskussionen oder Predigten verfolgen, wenn der Lautsprecher knarzt oder der Wind die Stimmen davonträgt? Das Orga-Team buchte Schriftdolmetschende. Sie tippen bei Vorträgen oder Diskussionen in Echtzeit mit; diese Mitschriften werden direkt auf eine Leinwand übertragen. Für die Teilnahme von Menschen mit geistiger Behinderung wurden ein bis zwei Veranstaltungen pro Tag vorbereitet: Bewegungsangebote, Erzählrunden, auch Meditation und biblische Impulse für Menschen mit und ohne Behinderung.
Alles bedacht, von Steigung bis Matsch
Sogenannte temporäre Rampen wurden bestellt und aufgebaut: Rampen also, die nach der Veranstaltung wieder auseinandergenommen und abtransportiert werden. Fahrdienste wurden eingeteilt; an steilen Fußwegen sollten sich Hilfskräfte postieren, um bei Bedarf Menschen im Rollstuhl zu assistieren. Überhaupt formierte sich ein großes Assistenzteam, um – nach telefonischer Vorbestellung und bei Bedarf jederzeit spontan – ältere Menschen oder Besucherinnen und Besucher mit Behinderung zu unterstützen. Fürs barrierefreie Café wurden Beschäftigte von Werkstätten für behinderte Menschen gewonnen. Und wenn es regnen würde, sich die Wiesen in Matsch verwandelten: Würden dann Menschen mit Rollstuhl nicht steckenbleiben? Kunststoffplatten wurden bereitgelegt – und sollten reichlich und erfolgreich zum Einsatz kommen.
Bitte mal Ruhe!
Gerade für Menschen mit Behinderung, ältere Gäste und Familien mit kleineren Kindern wichtig: Ruhebereiche, um im Miteinander der Zehntausenden wieder Kraft zu schöpfen. Und ganz andere stille Örtchen: Sanitätscontainer, komplett ausgestattet mit behindertengerechter Toilette und einer Liege, um z. B. Katheter zu wechseln oder Kleidung an- und auszuziehen. „Im Helferteam vor Ort waren immer Frauen und Männer parallel eingeteilt. So war die sogenannte gleichgeschlechtliche Assistenz gesichert – ein wichtiger Aspekt, wenn man sich in intimsten Momenten von fremden Menschen helfen lassen muss“, schildert Judith Schmohl. „Eine halbe Turnhalle haben wir in abgeschirmte Kabinen mit Pflegebetten aufgeteilt. Die haben Sanitätshäuser aus der Region gratis zur Verfügung gestellt. Und sie haben sich auch im Wechsel um die Reparatur von Rollstühlen gekümmert.“
Willkommenskultur
Bei Katholikentagen bieten Einheimische Privatquartiere an. „Viele Leute, die eine rollstuhlgerechte Wohnung oder ein barrierefreies Haus hatten, sagten ausdrücklich, dass sie gerne Menschen mit Behinderung aufnehmen würden. Auch Menschen mit geistiger Behinderung fanden private Unterkünfte“, erinnert sich Judith Schmohl. „Da gab es keine Berührungsängste, sondern Neugier aufeinander.“
Hat der Katholikentag nachhaltig barrierefreie Routen in der Stadt gebahnt? „Direkte Spuren hat er leider nicht hinterlassen“, bedauert Judith Schmohl. „Auch in den Kirchen wurden z. B. nur mobile Rampen eingesetzt und anschließend wieder abgebaut. Aber die Initiative Regensburg inklusiv, mit der wir eng zusammengearbeitet haben, hat seither gemeinsam mit der Stadt richtig viel bewegt.“ Der Regensburger Katholikentag ist für Judith Schmohl längst Erinnerung; inzwischen leitet sie ein Internat in der Domstadt. An ihr Jahr im Barrierefrei-Projekt denkt sie heute ganz entspannt und mit Freude. „Es war unglaublich spannend, schön und bereichernd. Ich würde es nochmal machen.“
Glossar
Leichte Sprache
Leichte Sprache hilft Menschen mit geistiger Behinderung.
Texte in Leichter Sprache sind in großer Schrift gedruckt. Sie sind übersichtlich gegliedert. Sie bestehen aus kurzen, klaren Sätzen. Jeder Satz vermittelt nur eine Information. Fremdwörter werden durch deutsche Begriffe ersetzt. Zusammengesetzte Begriffe werden mit Bindestrich geschrieben. Bilder unterstützen das Textverständnis. Texte in Leichter Sprache werden von Text-Profis oder intensiv eingearbeiteten Menschen verfasst.
Mehr lesen: zum Lexikoneintrag „Leichte Sprache und einfache Sprache“
Punktschrift (u. a. Brailleschrift)
Eine Schrift, die Buchstaben in einem Punktesystem darstellt. Die Punkte werden nicht aufs Papier gedruckt, sondern so eingeprägt, dass blinde Menschen sie ertasten können. Die heute verbreitete Punktschrift wurde im 19. Jahrhundert von Louis Braille entwickelt. Braille war selbst blind; sein Schriftsystem passte er perfekt auf die Bedürfnisse blinder Menschen an. Jeder Buchstabe wird durch eine Kombination von maximal sechs Punkten dargestellt. Sie werden in zwei Spalten mit je drei Punkten angeordnet.
Cochlea-Implantat (kurz: CI)
Ein Cochlea-Implantat ist eine Hörprothese. Sie wird in einer Operation hinter dem Ohr eingesetzt. Das Übertragungsgerät („Sprachprozessor“) setzt der hörgeschädigte Mensch wie ein Hörgerät ein. Dieses Gerät wandelt alle Geräusche in elektrische Signale um und leitet sie weiter ins Implantat. Dort werden sie entschlüsselt und in die Hörschnecke („Cochlea“) übertragen.
Cochlea-Implantate eignen sich für hochgradig schwerhörige und gehörlose Menschen in jedem Alter. Sie kommen in Frage, wenn ein Hörgerät nicht hilft. Das CI erschließt nicht sofort die Welt des Hörens; CI-versorgte Menschen müssen intensiv üben, das Implantat muss in der Anfangsphase auch häufig individuell nachgeregelt werden.
Gebärdensprache
In Deutschland leben rund 80.000 gehörlose Menschen (Quelle: Deutscher Gehörlosen-Bund ). Sie können sich u. a. mit der Deutschen Gebärdensprache verständigen. Gebärdet wird mit Finger- und Handzeichen, unterstützt durch Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Lippenbewegungen. Die Gebärdensprache ist als eigenständige Sprache anerkannt.
Als erste süddeutsche Hochschule (HS) bietet übrigens die HS Landshut einen Bachelor-Studiengang Gebärdensprachdolmetschen an.