Claudia Michels

Auf Altstadt-Tour in Regensburg

Regensburg, August 2015

Regensburg ist eine der ältesten deutschen Städte; ihr historischer Kern mit fast 1.000 denkmalgeschützten Gebäuden gehört zum UNESCO-Welterbe. Das bedeutet: jede Menge Charme, Kultur und Kopfsteinpflaster. Eine Herausforderung für alle, die mit Rollstuhl oder Rollator, Dreirad oder Tretroller, Rollkoffer oder Stöckelschuh unterwegs sind. Eine Initiative macht sich in Regensburg für den Abbau von Barrieren stark. Ein Besuch.

Über Florian Stangl

Florian Stangl ist Fachbereichsleiter für Produkt- und Qualitätsmanagement bei einem privaten Bildungsunternehmen. In Regensburg engagiert er sich ehrenamtlich im Behindertenbeirat und in Projekten wie „Regensburg inklusiv“. Seit einem Unfall mit 17 Jahren ist Stangl querschnittsgelähmt.

Claudia Michels

Über Thomas Kammerl

Thomas Kammerl ist Mitarbeiter der Katholischen Jugendfürsorge der Diözese Regensburg e. V. und Projektkoordinator von „Regensburg inklusiv“. Davor war er lange im Bereich der beruflichen Rehabilitation tätig.

Claudia Michels

Charme, Kultur und Kopfsteinpflaster

Claudia Michels
Schön, aber schweißtreibend: Kopfsteinpflaster in der Regensburger Altstadt.

Florian Stangl ist trainiert, sein Rollstuhl sportlich. Seine Füße hat er mit einem Expanderseil an den Fußrasten fixiert, damit sie auf holprigen Routen nicht abrutschen. Auf dem Weg hinauf zur Steinernen Brücke und dem Besucherzentrum Weltkulturerbe kommt er so zwar nicht ins Schleudern, aber ins Schnaufen. Die Steigung allein ist nicht das Problem: Das Kopfsteinpflaster macht den Abschnitt zur Barriere.

Haben Sie sich Kopfsteinpflaster schon mal näher angeschaut? Jeder einzelne der kleinen Pflastersteine ist aufgewölbt, zwischen den Steinen verlaufen mehr oder weniger breite Fugen. Die großen Hinterräder des Rollstuhls laufen locker über die Miniatur-Hügellandschaft. Doch die kleinen Vorderräder wollen sich in jedem Tal festkeilen. Da heißt es: Gewicht verlagern, Schwung nehmen, raus aus der Fuge – und dann volle Kraft voraus. Florian Stangl nimmt’s sportlich. Doch ältere oder weniger kräftige Rollstuhlfahrer müssen hier passen.

Menschen mit Behinderung werden in die Planung einbezogen

Trotzdem bescheinigt Stangl seiner Heimatstadt ein starkes Engagement für die Barrierefreiheit. Sie sei kein Lippenbekenntnis, sondern ein Ziel, das bei jeder Sanierung, jedem Umbau und Neubau bedacht werde. Der Regensburger Behindertenbeirat wird routinemäßig in die Planung einbezogen, seine Stimme hat Gewicht. Menschen mit verschiedenen Formen von Behinderung sitzen mit Fachleuten, Planern und Bauherrn am Tisch.

Wenn es um die historische Altstadt geht, stoßen hier regelmäßig die Anforderungen von Denkmalschutz und Barrierefreiheit aufeinander. Florian Stangl versteht die Position derer, die geschützte Ensembles unberührt erhalten wollen. Doch bevor Menschen mit Behinderung der Zugang zu historischen Gebäuden verwehrt bleibt, fordert er einen Kompromiss. „Man muss nicht alles rausreißen“, meint Stangl. „Ich bin auch ein Architektur-Ästhet. Wir müssen aber auch nicht alles auf Teufel komm raus erhalten. Ich finde, eine Rampe stört das Gesamtensemble nicht.“

Mal ist es eine Rampe, die ganz einfach Zugang eröffnet. Mal das Besucherzentrum Weltkulturerbe, das z. B. mit unterschiedlich hoch montierten Bildschirmen und höhenverstellbaren Fernrohren kleinen und größeren Menschen, Rollstuhlfahrern und Fußgängern komfortable Ein- und Ausblicke bietet. Mal ist es eine elegant geschwungene Metallbrücke, die historisch Interessierte stufenlos über Mauer- und Gebäudereste eines römischen Legionslagers führt. Die Universität Regensburg ist genauso wie die Ostbayerische Technische Hochschule weitgehend barrierefrei gestaltet.

In einigen Altstadt-Abschnitten zieht sich eine barrierefreie Furt mit flachen Steinen oder Platten durchs Kopfsteinpflaster. Eltern schieben hier im Flaniertempo den Kinderwagen, ein Radler rollt gemächlich vorbei, ältere Menschen spazieren entspannt. Florian Stangl nimmt Fahrt auf.

Claudia Michels
Geschafft: Die neue Pflasterung ist rollstuhlfreundlicher.
Claudia Michels
Handliche Taste, großes Hinweisschild: Türöffner am Regensburger Bahnhofsgebäude.

Menschen mit Behinderung müssen mitgestalten können

Barrierefreiheit betrifft nicht nur Menschen mit Gehbehinderung. Barrieren, die das Vorwärtskommen behindern, fallen nur am meisten auf. Auch deshalb, weil sie oft auch Menschen ohne Behinderung den Weg versperren. Doch es gibt genauso viele Barrieren, die Menschen mit einer Sinnesbehinderung, mit eingeschränkter Motorik, geistiger Behinderung oder psychischen Erkrankung das Vorankommen, den Zugang zu Informationen und das Miteinander erschweren.

Thomas Kammerl ist Koordinator von „Regensburg inklusiv“. Er sagt: „Ich bin kein Fachmann für Inklusion!“ Eher ist Kammerl der oberste Inklusions-Netzwerker. Die Stadt Regensburg, die Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg und die Katholische Jugendfürsorge Regensburg haben das Projekt gegründet. Dazu gehört auch das Querschnittsthema „Barrierefreiheit“. Vor einer Weile habe sich eine Expertengruppe im Bürger- und Verwaltungszentrum (BVZ) in der Stadtmitte getroffen, berichtet Kammerl. Schon bei der Planung des BVZ sei versucht worden, ein hohes Maß an Barrierefreiheit zu gewährleisten. „Doch ein Teilnehmer mit Lernschwierigkeiten sagte, er hätte uns alleine nie gefunden. Kein Wunder, auf dem Schild neben dem Eingang steht auch kein Hinweis in Leichter Sprache.“

Logisch: Was ein Mensch nicht selbst als Barriere empfindet, nimmt er oft einfach nicht wahr. Auch Menschen mit Behinderung sind keine Spezialisten für jede Art von Barrierefreiheit – sondern eben nur für den Bereich, der ihr eigenes Leben berührt. Warum sollte ein Rollstuhlfahrer mehr über die Bedürfnisse von gehörlosen Menschen wissen als ein Fußgänger? Deshalb ist es wichtig, dass Menschen mit unterschiedlichsten Formen von Behinderung in Barrierefrei-Projekte einbezogen werden.

Barrierefreiheit ist für mich, wenn ich ganz spontan leben kann.

Florian Stangl

„Pflasterplan“ lotst durch die Altstadt

 „Barrierefrei durch Regensburg“ heißt eine dicke Broschüre. Sie versammelt unter Stichworten wie „Regensburg genießen“, „Gesundheit“ oder „Leben in Regensburg“ barrierefreie Angebote und wichtige Anlaufstellen. Altstadt-Frust vermeidet der „Pflasterplan“. Darin sind alle Straßen je nach Rollstuhl-Eignung des Pflasters grün, orangefarben oder rot markiert. Noch sind viele Abschnitte rot gefärbt. Doch zwei gut befahrbare Achsen führen bereits längs und quer durch das historische Viertel.

Eine Stadt barrierefrei zu gestalten, das heißt: ein stetiger, jahrzehntelanger Dialog mit unterschiedlichsten Betroffenen und Fachleuten, der Blick aufs Ganze und auf Details, Experimentierfreude, die Offenheit, Fehler zuzugeben, aus Pannen zu lernen und bei Bedarf eben nachzubessern.

„Wenn man die Barrierefreiheit von Anfang an in die Planung einbezieht“, sagt Thomas Kammerl, „ist ein Gebäude meist nur unwesentlich teurer.“ Die Redewendungen „am grünen Tisch planen“ (also: den Praxistest noch nicht bestanden haben) und „auf die lange Bank schieben“ seien in Regensburg entstanden, wissen Stangl und Kammerl. Beim Abbau von Barrieren werden hier beide Möbelstücke tunlichst vermieden.

Claudia Michels
Zentimeterarbeit: Rollstuhlfahrer wünschen sich Gehsteig-Übergänge komplett abgeflacht. Blinde Menschen brauchen dagegen eine deutliche Erhöhung, die sie mit ihrem Langstock ertasten können. Der Regensburger Kompromiss: drei Zentimeter.
Claudia Michels
Regensburg aus erster Hand: Ein Tastmodell erschließt die Altstadt für blinde Menschen.

Barrierefreiheit bedeutet für mich einen Gewinn an Lebensqualität für alle Menschen – ob mit oder ohne Behinderung.

Thomas Kammerl

„Behindertenfreundlich“ als Etappenziel?

Lassen sich mit guter Planung und raffinierter Hightech also künftig alle Barrieren vermeiden? Nein, finden Florian Stangl und Thomas Kammerl. Barrierefreiheit sei auch eine Frage der Haltung. Kammerl beschreibt eine typische Szene: „Ich habe erlebt, dass zwei Rollstuhlfahrer zu einem Fest eingeladen und, obwohl sie einander nicht kannten, an denselben Tisch gesetzt wurden. Als ob ihre Behinderung eine Gemeinsamkeit wäre, die sie füreinander interessant macht.“ Und Florian Stangl fragt: „Ist das barrierefrei, wenn ich nur durch den Hintereingang zu einer Veranstaltung komme, vorher jemanden verständigen muss, der mir die Tür und die Aufzüge aufsperrt – statt wie alle anderen einfach die Vordertür zu benutzen?“

Er fühle sich behindert, sagt Stangl, wenn ein Ausflug oder ein Kurzurlaub nur mit aufwendiger Planung möglich seien. „Wo ist die nächste barrierefreie Toilette, wo finden wir ein rollstuhlgerechtes Hotel?“ In Deutschland, meint Stangl, sei man oft „DIN-Norm-verbohrt“. In Italien habe er weniger Probleme, ein Quartier zu finden – zwar nicht normgerecht, aber rollitauglich. „Es muss nicht jeder Ort barrierefrei sein“, findet Florian Stangl. „`Behindertenfreundlich´ wäre doch ein guter Anfang.“

Eine solche Erfahrung machte er siebzehnjährig, nach seinem schweren Unfall. Familie, Freunde und Lehrkräfte unterstützten ihn, als er in der Reha trainierte, um im Rollstuhl in den Alltag zurückzukehren. Während sie mit ihm den Lernstoff der elften Klasse büffelten, wurde an seiner Schule das Erdgeschoss rollstuhlgerecht gestaltet. „In den ersten Stock haben mich meine Freunde gezogen. Das hat die Lehrer verrückt gemacht, wegen der Versicherung. Aber wir hatten Spaß und ich war dabei.“

Warum engagiert sich Florian Stangl so intensiv in seiner Heimatstadt? „Mich reizt die gesellschaftspolitische Arbeit. Hier merke ich, dass ich nicht nur ein Alibi bin, sondern auch wirklich etwas bewegen kann.“

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