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Barrierefreies Neues Rathaus Ingolstadt
Ingolstadt, Juni 2016. Spätestens als Ingolstadts Oberbürgermeister Christian Lösel von selbstfahrenden Autos spricht („Das könnte eines Tages eine Revolution in der Barrierefreiheit sein!“), ist klar: Dieser Mann sieht den Abbau von Barrieren als ebenso wichtiges wie spannendes Zukunftsthema. Im Neuen Rathaus in Ingolstadt sorgt Hightech dafür, dass alle Menschen alles mitbekommen und schnell ihr Ziel erreichen. Manchmal ist aber auch ein tiefergelegter Tisch die Lösung. Wir waren zu Besuch in einer Stadt, die Fortschritt (auch) durch Barrierefreiheit erreichen will.
Über Dr. Christian Lösel
Dr. Christian Lösel ist seit 2014 Oberbürgermeister von Ingolstadt.
Meine Meinung
„Barrierefreiheit bedeutet für uns: Wir gestalten keine `altengerechte´ Stadt, sondern eine altersgerechte. Also eine, die den Bedarfen jeder Altersgruppe gerecht wird.“
Über Inge Braun
Inge Braun ist Behindertenbeauftragte bei der Stadt Ingolstadt. Alle Vorhaben zur Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und in Sonderbauten (z. B. Kitas, Schulen, Versammlungs- und Freizeitstätten) laufen über ihren Tisch. Mit Fachleuten ist sie genauso gut vernetzt wie mit Menschen, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Inge Braun hat selbst eine Schwerbehinderung.
Meine Meinung
„In den vergangenen Jahren hat ein Umdenken begonnen. Bei uns in der Verwaltung wird die Barrierefreiheit automatisch mitbedacht.“
Eine altersgerechte Stadt
In Bayern gibt es, wie auch bundesweit, mehr Sterbefälle als Geburten. Das bedeutet: Das Durchschnittsalter der Bevölkerung steigt. Ingolstadt ist eine Ausnahme. „Wir sind eine junge Stadt“, sagt OB Christian Lösel. „Wir haben viel Zuzug von Menschen unter 40. Das heißt auch: Wir werden viele Kinder kriegen. Seit Anfang 2012 ist die Geburtenrate schon um 25 Prozent gestiegen.“ Der demografische Wandel – also die Verformung von der Alterspyramide zur „Alterszwiebel“ mit einer stetigen Zunahme der älteren Bevölkerung – trifft Ingolstadt kaum. „Wir haben kein Demografieproblem“, fasst Lösel zusammen. „Aber ein Demografiethema“.
Demografie: kein Problem. Aber ein Thema!
„Ein Demografiethema – das bedeutet für den Oberbürgermeister: „Jede Altersgruppe hat ihre Bedarfe und wir müssen sie alle genau kennen. Wir brauchen mehr Plätze in Kitas und Schulen – aber wir müssen auch auf die alten Menschen achten.“ Nicht selten seien, so Christian Lösel, die Themen von Jung und Alt dieselben. So freuten sich junge Eltern mit Kinderwagen genauso über die Laufbänder in der Altstadt wie ältere Menschen mit Gehhilfe – und natürlich alle Menschen mit Rollstuhl. Laufbänder? Nein, das sind in diesem Fall keine Fitnessgeräte. Sondern Spuren mit flachem, glattem Belag, die sich wie Schneisen durch kopfsteinbewehrte Fußgängerwege ziehen. Gehwege an Übergängen absenken und Laufbänder einziehen: In Ingolstadt ist dem Vorhaben ein eigenes Programm gewidmet. Und in den Tiefgaragen gibt es neben Behindertenparkplätzen längst auch extrabreite Stellplätze für junge Eltern.
Barrierefreies Rathaus: Teilhabe für alle
Auch dort, wo in Ingolstadt Politik gemacht wird, sind schon viele Barrieren gefallen: im Neuen Rathaus. Maßnahmen für Menschen mit Körperbehinderung sind längst Standard: der schwellenlose Zugang, die automatischen Türen, die Behindertentoilette, die Lifte und Rampen. Direkt am Haupteingang ist ein Teil des Infoschalters so tief abgesenkt, dass Menschen mit Rollstuhl sich auf Augenhöhe mit den Servicekräften austauschen und problemlos Formulare ausfüllen können. Ältere oder gehbehinderte Besucherinnen und Besucher, schwangere Frauen oder Eltern mit Baby auf dem Arm: Wer muss oder möchte, kann sich hier auch setzen.
Moderne Technik erleichtert es hörgeschädigten Menschen, ihre Bürgerpflichten zu erfüllen und am politischen Leben teilzuhaben. Für Menschen mit Hörgerät wurde am Infoschalter eine Induktionsschleife verlegt. Stellt man das Hörgerät entsprechend ein, hört man den Gesprächspartner klar und deutlich; alle Umgebungsgeräusche werden herausgefiltert. Und auf gehörlose Menschen warten (nach Voranmeldung) Gebärdensprachdolmetschende. Sie werden online zugeschaltet und übersetzen via Bildschirm und Lautsprecher in Gebärden- und Lautsprache.
Politik in allen Sprachen
Zwei Stockwerke höher, im Großen Sitzungssaal, wird Politik gemacht. Wer das miterleben möchte, kann hier alle öffentlichen Sitzungen verfolgen. Auch gehörlose Ingolstädterinnen und Ingolstädter – und Menschen, die nicht (gut) Deutsch sprechen. Melden Sie sich 14 Tage vor der Sitzung an (E-Mail schreiben), wird wiederum der Online-Dolmetschdienst gebucht, der in Gebärdensprache oder in die gewünschte Fremdsprache übersetzt. Die Kosten übernimmt die Stadt. „Das ist in unserem Haushalt ein Mikrobetrag“, schildert Christian Lösel. „Aber er bewirkt enorm viel. Wir haben einen hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund – aus mehr als 100 Nationen! Da brauchen wir eine Infrastruktur wie deutlich größere Städte.“
Signet „Bayern barrierefrei“ für das Neue Rathaus
Für den gelungenen Abbau von Barrieren im Neuen Rathaus wurde Ingolstadt mit dem Signet „Bayern barrierefrei – Wir sind dabei!“ der Bayerischen Staatsregierung ausgezeichnet.
Michael Höhenberger, Amtschef des Bayerischen Sozialministeriums (r.), und Karin Seehofer, Ehefrau des Bayerischen Ministerpräsidenten (2. v. r.), übergaben das Signet „Bayern barrierefrei“ an Ingolstadts Oberbürgermeister Christian Lösel und Behindertenbeauftragte Inge Braun.
Die Initiative „Bayern barrierefrei“ habe einen großen Schub bewirkt, meinte Michael Höhenberger und verwies auf die Investitionen der Staatsregierung. Doch der Freistaat brauche starke Partner in den Kommunen. In Ingolstadt werde das Thema Barrierefreiheit sehr ernst genommen.
Beim Thema Barrierefreiheit seien alle Menschen gefordert, betonte Karin Seehofer. „Barrierefreiheit beginnt mit unserer Wahrnehmung und unserer Achtsamkeit. Ich möchte Sie alle anspornen: Helfen Sie mit!“
Das Signet „Bayern barrierefrei – Wir sind dabei!“ steht für konkrete, beachtliche Beiträge zur Barrierefreiheit in Bayern. Es ist keine Zertifizierung, sondern Anerkennung und Ansporn: Barrierefreiheit braucht Taten, keine übertriebene Bürokratie!
An ihre Zeit als junge Mutter mit drei kleinen Kindern erinnert sich Karin Seehofer gut. „Das Kleinste war im Wagen, die beiden anderen an der Hand. Da warteten allein auf dem Weg vom Parkplatz zum Kinderarzt im ersten Stock viele Barrieren. Aber es gab auch immer Menschen, die spontan geholfen haben.“ Dass Barrierefreiheit in Ingolstadt inzwischen vielerorts selbstverständlich sei, mache sie stolz. „Alle Menschen sollten am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Wir sind alle gefordert.“
An der Verleihung des Signets „Bayern barrierefrei“ nahm auch Daniel Koller vom Bundesverband Poliomyelitis e. V. teil (re. vorne). Wegen einer Querschnittslähmung sitzt er selbst im Rollstuhl. Er erlebt, dass das Thema Barrierefreiheit in seiner Heimatstadt in immer mehr Köpfen ankommt. „In vielen Läden gibt es zwar noch keine abgesenkten Theken. Aber die Mitarbeiter `übersehen´ mich nicht, sondern kommen ganz selbstverständlich um die Theke herum, um mich zu bedienen.“
Barrierefreiheit im Praxistest
„Wir haben viel erreicht und noch mehr vor.“ Inge Braun ist seit 2009 Behindertenbeauftragte in Ingolstadt. Wer erleben will, was Engagement mit Leib und Seele bedeutet, muss ihr nur zuhören, wenn sie über Barrierefreiheit spricht. An ihrem Schreibtisch und unterwegs hat sie die Barrierefreiheit im Rathaus und im öffentlichen Raum, in Kitas und Kirchen, im Museum, in der VHS und im Sportbad, in der Touristen-Info und in den städtischen Bussen im Blick. Mit der Beratungsstelle Barrierefreiheit der Bayerischen Architektenkammer telefoniert sie einmal pro Woche, holt sich Ratschläge, tauscht sich aus. Auch mit Vereinen und Selbsthilfegruppen ist sie in regem Kontakt; Menschen mit Behinderung bezieht sie in die Planung und in Praxistests ein. Dabei wird auch mal erörtert, dass der Lifter am Beckenrand des Sportbads nicht nur mit Euroschlüssel zugänglich sein sollte. Diese Schlüssel erhalten nämlich nur Menschen mit Schwerbehinderung. Der Lifter hilft aber auch älteren Menschen, bequem und sicher ins Becken und wieder hinauszugelangen. Das Ergebnis der Überlegung: Der Lifter ist frei zugänglich für alle, die ihn brauchen. Und die Bademeister haben ein Auge darauf, dass die Kinder ihn nicht als Spielgerät erobern.
Ich möchte Sie alle anspornen: Helfen Sie mit!
Es muss noch viel geredet werden
Ein Wunder, dass Inge Braun sich noch nicht den Mund fusselig geredet hat. Barrieren abzubauen, das lernt man bei ihr, heißt: reden, reden, reden. Was ist der Unterschied zwischen einer barrierefreien Tür und einer rollstuhlgerechten? Was ist nötig, damit blinde Menschen den akustischen Fahrplan an der Busstation nutzen können? Wie erreicht Politik alle Bürgerinnen und Bürger? Aufklärung und Beratung sind Kernaufgaben der Behindertenbeauftragten. „Barrierefreiheit“, sagt Inge Braun, „muss selbstverständlich sein. Und das ist dann der Fall, wenn man gar nicht mehr darüber reden muss.“
Bildergalerie: Barrierefreiheit beginnt mit Achtsamkeit
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Glossar
Induktionsschleife, induktive Höranlage
Eine technische Lösung, um Sprache, Musik oder Geräusche drahtlos auf Hörgeräte und Cochlea-Implantate zu übertragen. Eingesetzt wird das Verfahren z. B. in Schule und Studium, bei Veranstaltungen, Gottesdiensten oder Theateraufführungen. Die Anlage besteht aus einem Mikrofon (oder einer anderen Signalquelle), einem Verstärker und einer Induktionsschleife. Der Vorteil: Umgebungs- und Echogeräusche werden ausgeblendet, Töne kommen in klarer Qualität beim Empfänger an. Menschen, die ein Hörgerät tragen, erkennen das Angebot an einem Hinweisschild mit einem kleinen „T“.
Leichte Sprache
Leichte Sprache hilft Menschen mit geistiger Behinderung. Texte in Leichter Sprache sind in großer Schrift gedruckt. Sie sind übersichtlich gegliedert. Sie bestehen aus kurzen, klaren Sätzen. Jeder Satz vermittelt nur eine Information. Fremdwörter werden durch deutsche Begriffe ersetzt. Zusammengesetzte Begriffe werden mit Bindestrich geschrieben. Bilder unterstützen das Textverständnis. Texte in Leichter Sprache werden von Text-Profis oder intensiv eingearbeiteten Menschen verfasst.
Bedarf, Bedarfe, Bedürfnis
Warum steht in Texten auf dieser Website manchmal der Begriff „Bedarfe“? Das Wort „Bedarf“ gibt es doch nur in der Einzahl! Und was ist eigentlich der Unterschied zwischen „Bedarf“ und „Bedürfnis“? „Bedürfnis“ beschreibt ein persönliches Verlangen; Bedarf dagegen die tatsächliche Notwendigkeit. Ein Beispiel: Ich habe ein starkes Bedürfnis nach einem Stück Schokolade – obwohl mein Energiebedarf für heute schon gedeckt ist. Betrachtet man nun, was z. B. die gesamte Bevölkerung in einer Stadt braucht – von der Nahrungsversorgung bis zur Schulbildung, von Krankenhäusern bis zur Sozialberatung – dann spricht man von unterschiedlichen „Bedarfen“. Der Plural „Bedarfe“ ist also ein Fachbegriff aus den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. In der Alltagssprache verwendet man tatsächlich nur die Einzahl „Bedarf“ (z. B. der Bedarf an Seife – egal, ob ein Stück Seife gebraucht wird oder hunderte).
Euroschlüssel
In den frühen 80er-Jahren gab es schon etliche Behindertentoiletten. Sie waren jedoch für jedermann zugänglich und oft in entsprechend schlechtem Zustand. Der CBF Darmstadt e. V., ein Selbsthilfeverein für Menschen mit Behinderung, entwickelte daraufhin den Euroschlüssel und überzeugte zunächst Betreiber von Autobahn-Raststätten, passende Schließanlagen zu installieren. Inzwischen gibt es europaweit mehr als 12.000 Toiletten, die nur mit Euroschlüssel zugänglich sind. Erhältlich ist der Euroschlüssel beim CBF gegen Vorlage des deutschen Schwerbehindertenausweises mit Merkzeichen aG, B, H, oder BL oder Merkzeichen G und 70, 80, 90 oder 100. Weitere Infos zum Euroschlüssel