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Barrierefrei durch den digitalen Raum
München, November 2016. Josef Plötz berät Unternehmen, die digitale Angebote möglichst barrierefrei gestalten wollen. Zu seinem Job bei der Stiftung Pfennigparade gehört es, bei seinen Kundinnen und Kunden ein Gespür für den schmalen Grat zwischen Fluch und Segen zu entwickeln, zwischen digitalem Schnickschnack (der zur Barriere werden kann) und nützlichen barrierefreien Angeboten. Neben seiner Expertise in IT-Fragen macht ihn auch seine Körperbehinderung zum geschätzten Ansprechpartner: Josef Plötz vermittelt Erfahrung aus erster Hand.
Über Josef Plötz
Josef Plötz ist Datenverarbeitungs-Kaufmann. Seit 1998 arbeitet er bei der Stiftung Pfennigparade. U. a. testet er barrierefreie Websites und gibt Schulungen zur Barrierefreiheit im digitalen Raum.
Meine Meinung
„Barrierefreiheit soll nicht als lästige Pflicht betrachtet werden, sondern als zusätzliche Qualität eines Angebots – als besonderer Nutzen.“
Keine Kinokarte unter dieser Nummer …
Digitale Technik kann ein Segen sein: „Bei einem IT-Arbeitsplatz ist es dank der vielen digitalen Hilfsmittel heute fast egal, ob man eine Behinderung hat und welche“, meint Josef Plötz. Der IT-Fachmann sitzt im Elektrorollstuhl; seine Arme und Hände kann er nur eingeschränkt bewegen. Ein Buch aus dem Regal angeln? Eher nicht. Doch am Computer öffnet sich für ihn die gesamte Welt. Vorausgesetzt, die digitalen Angebote sind barrierefrei gestaltet. Denn zum Fluch wird moderne Technik, wenn man sie unbedacht einsetzt. Dann verhindert sie z. B., dass sich Josef Plötz eine Kinokarte kaufen kann oder bei einer Service-Hotline bis zu einer Ansprechperson aus Fleisch und Blut vordringt.
Kennen Sie das? Sie rufen beim Kino an, um Karten zu bestellen. Filmtitel, Datum, Uhrzeit, Zahl der Karten – alles im Kopf? Prima. Doch dann meldet sich am anderen Ende kein freundlicher Kinomensch, sondern eine Computerstimme. Schwitz! Jetzt heißt es: Nerven bewahren, schön deutlich sprechen, hurtig die richtigen Ziffern, Rauten und Sternchen drücken. Ach, das Dialogsystem versteht Sie nicht? Weil Sie vielleicht etwas länger brauchen, um seinen Anweisungen zu folgen? Weil Sie nicht so gut Deutsch können? Oder weil Ihre Aussprache nicht ganz glasklar klingt? Schade. Aber egal. Denn selbst wenn der Computer Sie verstehen würde: Er käme gar nicht auf die Idee, Sie zu fragen, ob Sie vielleicht einen Rollstuhlplatz brauchen. Hat ihm leider keiner ins Gehirn programmiert.
Wer weiß am besten, was einem Menschen mit Behinderung nützt? Ein Mensch mit Behinderung.
Erfahrungen wie diese macht Josef Plötz oft. Wenn er sie in Workshops schildert, wird es plötzlich ganz hell im Seminarraum vor lauter Erleuchtung. Josef Plötz prüft nicht nur, ob Websites barrierefrei gestaltet sind. Diese Prüfung wartet am Ende eines längeren Wegs. Ganz am Anfang rüttelt der IT-Fachmann nicht an HTML-Codes von Websites, sondern an Einstellungen von Menschen. Von Menschen in Unternehmen, die ihre digitalen Angebote barrierefrei gestalten wollen, sollen oder müssen. Sein Ziel: „Barrierefreiheit soll nicht als lästige Pflicht betrachtet werden, sondern als zusätzliche Qualität eines Angebots – als besonderer Nutzen.“ Aha-Erlebnisse helfen, dieses Lernziel zu erreichen. Ganz besonders, wenn ein Betroffener – z. B. ein Mensch mit Behinderung – sie vermittelt.
Denn: „Das Wichtigste ist, wer barrierefreie Angebote machen will, muss sich in die Nutzer hineinversetzen“, sagt Veronika Hausberger. Sie leitet den Fachbereich OpenWebServices der Stiftung Pfennigparade. Genau darauf sensibilisiert Josef Plötz seine Kundinnen und Kunden. Dafür nimmt er ihnen auch mal die Maus weg. „Dann staunen sie, wenn sie selbst ausprobieren, was alles über die Tastenbedienung möglich ist.“ Ein wichtiger Aspekt für Menschen mit Sehbehinderung oder eingeschränkter Feinmotorik, denn sie können oft die Maus nicht nutzen. Josef Plötz freut sich auch, wenn eine Workshop-Teilnehmerin ihre Brille vergessen hat. Dann kann sie selbst erleben, wie praktisch es ist, wenn man alle Inhalte einer barrierefreien Website stufenlos vergrößern kann, ohne dass die schöne Gestaltung leidet.
„Barrierefreiheit heißt: sich von Wahrscheinlichkeiten hinwenden zu den Möglichkeiten.“ Veronika Hausberger im Großraumbüro der OpenWebServices. Apropos „möglich“: Ist eigentlich 100-prozentige Barrierefreiheit möglich?
Nein, da sind sich Josef Plötz und Veronika Hausberger einig, das sei eine Utopie. „Man kann nicht jedes Angebot auf alle zuschneiden“, sagt Hausberger. „Aber jede Anstrengung hilft und macht das Angebot besser.“
Barrierefreiheit ist attraktiv für alle
Ganz besonders staunen Menschen, wenn Josef Plötz ihnen zeigt: Barrierefreie Websites sehen nicht aus wie eine krankenhausgrüne digitale Krücke, sondern genauso jung und hip, genauso bunt und appetitanregend oder genauso gediegen und elegant wie andere Websites auch. Seinen Workshop-Runden vermittelt Plötz: Was für Menschen mit Behinderung entwickelt worden sei, nutze auch Menschen ohne Behinderung. „Nicht nur Menschen mit Sehbehinderung, sondern alle freuen sich, wenn sie bei schönstem Sonnenschein mit ihrem Tablet-Computer im Park sitzen und sich auf Websites gut zurechtfinden.“
Barrierefreiheit: auch ein Wettbewerbsvorteil
Websites, die logisch aufgebaut und gut gegliedert, kontrastreich gestaltet und ohne langes Nachdenken zu bedienen sind, besucht man gern und empfiehlt sie weiter. Die Folge: Nach und nach klettern diese Websites in den Ergebnislisten der Suchmaschinen nach oben. „Wenn Barrierefreiheit dafür sorgt, dass eine Website in den Suchmaschinen ganz weit oben gelistet wird: dann wird sie plötzlich auch zum wirtschaftlichen Thema.“ Barrierefreiheit ist also nicht nur ein Vorteil für alle Nutzerinnen und Nutzer, sondern auch für die Anbieter. Das ist die zweite Botschaft, die Josef Plötz erlebbar macht.
Wenn Barrierefreiheit dafür sorgt, dass eine Website in den Suchmaschinen ganz weit oben steht: dann wird sie auch zum wirtschaftlichen Thema.
Menschen mit Behinderung: Perspektivenwechsel vom Bittsteller zum Kunden
Die Entwickler von Smartphones und Tablet-Computern haben vermutlich nicht zuallererst an Menschen mit Behinderung gedacht. Doch die mobilen Geräte sind tatsächlich in vielerlei Hinsicht barrierefrei. Das beginnt bei den Tastenfeldern, die auf federleichten Druck reagieren und reicht bis zur Steuerung über Spracheingabe. Ganz abgesehen davon, dass die „Handys“ tatsächlich handlich sind und jeder Mensch sie so halten oder legen kann, wie es ihm möglich und angenehm ist. Wenn immer mehr Dinge und Angebote für immer mehr Menschen nutzbar sind, dann ist Barrierefreiheit „kein Sonderweg mehr, sondern ein Standard“, beschreibt Josef Plötz. „Dann fühle ich mich als Mensch mit Handicap nicht mehr als Bittsteller, sondern als Kunde.“
Barrierefreiheit in der Praxis: Ihre Fragen
Sie wollen selbst Barrieren abbauen – bei sich zu Hause, in Ihrem Café oder Laden, in Ihrer Kommune? Eine kostenlose Erstberatung bietet die Beratungsstelle Barrierefreiheit an 18 Standorten in Bayern. Das Beratungsangebot deckt alle Lebensbereiche ab und jede/r kann es in Anspruch nehmen. Fachexperten der Stiftung Pfennigparade, selbst mit einer Behinderung, haben ihr Wissen und ihre Erfahrung zur Barrierefreiheit im digitalen Raum und zur Leichten Sprache eingebracht und das Beratungsteam in Workshops geschult. Hier erfahren Sie mehr zum Beratungsangebot:
Beratungsstelle Barrierefreiheit: alle Infos
Interview mit Thomas Lenzen, Geschäftsführer der Beratungsstelle Barrierefreiheit