StMAS/Nikolaus Schäffler

FC Bayern barrierefrei 4.0: digitale Brille für hörbehinderte Fans

München, April 2017

Was bedeutet es, Barrierefreiheit ernst zu nehmen? Zum Beispiel: darauf zu achten, dass 20 hörbehinderte Menschen in der Allianz Arena genauso viel von einem Fußballspiel mitbekommen wie die 75.000 hörenden Fans. Der FC Bayern versorgt hörbehinderte Fans neuerdings mit digitalen Brillen, in deren Gläser alle Kommentare des Stadionsprechers nahezu in Echtzeit eingeblendet werden. Der Verein arbeitet stetig daran, das Fußballerlebnis für Fans mit Behinderung zu bereichern. Seit die Allianz Arena 2015 mit dem Signet „Bayern barrierefrei“ ausgezeichnet wurde, hat sich einiges bewegt. Zeit für einen neuen Besuch!

Über die digitale Brille

Eine Augmented-Reality- oder kurz AR-Brille ist eine digitale Brille. Sie ergänzt das, was ein Mensch in seiner Umgebung sieht, um zusätzliche Einblendungen. So funktioniert sie in der Allianz Arena: Die Kommentare des Stadionsprechers werden von online zugeschalteten Schriftdolmetschenden getippt („verschriftet“) und auf die Brillengläser übertragen. So erhalten hörgeschädigte Fans dieselben Infos wie die hörenden Zuschauerinnen und Zuschauer – nahezu ohne Zeitverzögerung.

StMAS/Nikolaus Schäffler

Was bedeutet „Augmented Reality“?

Augmented Reality („erweiterte Wirklichkeit“) oder kurz AR bedeutet: Eindrücke, die unsere Umwelt liefert, werden digital ergänzt – z. B. durch digitale Elemente, die man in Bilder und Videos einfügt. Bei Fußballübertragungen dient die Technik z. B. der anschaulichen Analyse. In diesem Fall werden Markierungen und Pfeile über das Bild gelegt, um einzelne Spielzüge zu erklären.

Jede Zuschauerin und jeder Zuschauer soll das Spiel bestmöglich erleben können.

Benjamin Steen

Alles im Blick

Was auf dem Spielfeld passiert, können gehörlose Fans im Stadion sehen. Die brodelnden Emotionen auf den Zuschauerrängen können sie spüren. Aber wie erfahren sie, was der Stadionsprecher sagt? Von der launigen Anmerkung übers Spieler-Interview bis zum wichtigen Hinweis: Was aus den Stadionlautsprechern tönt, interessiert natürlich alle Fans. Bis 2016 konnten gehörlose Fans in der Allianz Arena eine Handy-App nutzen. Sie übertrug die Transkription, also die schriftliche Fassung der Stadionkommentare, auf ihre Smartphones.

Benjamin Steen/FC Bayern München AG

Benjamin Steen, Abteilungsleiter für digitale Projekte und CRM beim FC Bayern München.

„Doch diese Methode hatte für sie zwei Nachteile“, sagt Benjamin Steen, Abteilungsleiter für digitale Projekte und CRM beim FC Bayern München. „Zum einen mussten sie abwechselnd aufs Spielfeld und auf ihr Handy blicken – und verpassten so möglicherweise spannende Szenen. Zum anderen dauerte es bis zu sieben Sekunden, bis der Text via Satellit auf den Smartphones ankam. Das bedeutete: Während alle anderen schon jubelten, warteten die gehörlosen Fans noch auf die Infos zum Ereignis auf dem Spielfeld.“

Wir sind kein Hardware-Entwickler – wir können nur nutzen, was der Markt bereitstellt.

Benjamin Steen

Benjamin Steen machte sich auf die Suche nach einer komfortableren, schnelleren Lösung. Er tauschte sich mit gehörlosen Fans aus und analysierte den Markt. Auf dem Gebiet der Augmented Reality wurden Steen und sein Team fündig. Zwei Systeme nahmen sie in die engere Wahl; bei einem Testspiel gegen Manchester City im Sommer 2016 konnten mehrere gehörlose Zuschauerinnen und Zuschauer beide Lösungen testen. Die Bayern gewannen das Spiel, eine digitale Brille den Testlauf. „Es war sehr bewegend“, erinnert sich Benjamin Steen. „Die gehörlosen Fans konnten zum ersten Mal alle Kommentare lesen, ohne die Augen vom Spielfeld zu lösen. Einige hatten wirklich Tränen in den Augen und waren emotional berührt.“ Die zugeschalteten Schriftdolmetschenden hackten jeden Kommentar des Stadionsprechers blitzschnell in die Tasten – und weil die Übertragung nicht mehr den langen Weg über den Satelliten nahm, liefen die Texte mit nur minimaler Verzögerung über die Brillen.

Zwei kleinere Beeinträchtigungen gibt es weiterhin. Je nach Sitzplatz und Sonnenstand trübt das helle Tageslicht die Schrift auf den Brillengläsern. Und wer kurzsichtig ist und seine eigene Brille trägt, tut sich schwer mit der digitalen Zusatzbrille. „Wir arbeiten weiter daran“, verspricht Benjamin Steen. „Eventuell können die Brillengläser getönt oder mit Filtern versehen werden, damit die Schrift unabhängig vom Tageslicht gut lesbar ist. Aber: Wir sind kein Hardware-Entwickler – wir können nur nutzen, was der Markt bereitstellt.“

Kommentare auf der Knochenleitung

Deshalb bleibt Benjamin Steen dran am Markt. Seine Devise: „Jede Zuschauerin und jeder Zuschauer soll das Spiel bestmöglich erleben können.“ Dabei denkt er auch an sehbehinderte Fans – und an Knochenleitungs-Kopfhörer. Das klingt gruselig, funktioniert aber ganz unblutig. Bislang setzen blinde und stark sehbehinderte Fußballfans in der Allianz Arena Funkkopfhörer auf, über die sie Livekommentare empfangen. Zwei Stadionreporter beschreiben alle Aktionen auf dem Spielfeld; sie sind gewissermaßen die Augen der Fans. Der Nachteil: Die Kopfhörer schirmen die Ohren naturgemäß ab – und blenden damit auch die Stimmung, die Gesänge, die Schlachtrufe und den Jubel aus. Aber: Schall dringt nicht nur durchs Ohr selbst (auf der Luftleitung), sondern wird auch über die Schädelknochen übertragen (also auf der Knochenleitung). Inzwischen gibt es Kopfhörer, die diesen Übermittlungsweg nutzen; man setzt sie nicht direkt aufs Ohr, sondern davor oder dahinter. Der Vorteil: Umgebungsgeräusche werden nicht ausgeblendet. Blinde und sehbehinderte Fußballfans empfangen die Kommentare und bekommen jedes Dezibel Stimmung und die Atmosphäre mit.

Aha!

Sie sind kein Fußballfan? Dann glauben Sie vermutlich, dass Menschen ins Stadion gehen, um Spiele zu sehen. Doch das ist nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Zum Fußballerlebnis gehört viel mehr: die Bratwurst in der rechten Hand, der Becher in der linken. Das Fachsimpeln vor, während und nach jeder Aktion. Das Kribbeln im Bauch, wenn Zehntausende „La Ola“ durchs Stadion wogen lassen. Das Beben in den Rängen, wenn die eigene Fankurve wie ein Mann aufspringt und hüpft. Die gemeinsame Freude, die Tränen auf der Kutte. Jedes Fitzelchen Information über jeden Akteur auf dem Platz. An allem, was man sehen, hören, lesen, bejubeln und beweinen kann, will der Fan teilhaben. Und genau deshalb ist Barrierefreiheit in Stadien ein wirklich wichtiges Thema.

Bildergalerie: die neue digitale Brille

Bei einem Heimspiel des FC Bayern München stellte der Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge Bayerns Sozialministerin Emilia Müller die neue digitale Brille vor. Mit dabei waren auch hörbehinderte Fans, die an der Erprobung mitgewirkt hatten.

So erleben Menschen mit Behinderung ein Fußballspiel

In der Münchner Allianz Arena können Fans mit Einschränkungen bei den Spielen hautnah dabei sein und mitfiebern. Sehen Sie selbst:

Wir haben mit Fußballfans mit Behinderung darüber gesprochen, wie sie Spiele in der Allianz Arena erleben: Martina B. ist Vorsitzende des Red Deaf Fanclubs und selbst gehörlos. Hermann S. kickt seit Kindergartentagen; heute hat er eine starke Sehbehinderung. Im Stadion genießt er das Gemeinschaftsgefühl. Susanne H. sitzt im Rollstuhl. Die Stadionbesuche sind für sie ein Genuss ganz ohne Barrieren.

Frauen werden mitunter bis heute als Pseudo-Fans geschmäht, die sich weniger fürs Spiel begeistern als für knackige Spielerkörper und überhaupt nur WM gucken. Martina B. tritt den Gegenbeweis an. Schon als Kind fieberte sie neben ihrem Vater vor dem Fernseher, wenn Fußball übertragen wurde. „Irgendwann hat er mich zu einem Heimspiel des FC Bayern ins Olympiastadion mitgenommen, ich dürfte zehn oder elf Jahre alt gewesen sein.“ Als Exotin kam sie sich überhaupt nicht vor. „Ich habe mich sofort wohlgefühlt und feuerte begeistert mit an. In meiner Schule gab es auch Fans und wir konnten uns austauschen. Als ich 14 war, ging ich schon regelmäßig ins Olympiastadion.“ Ihre Gehörlosigkeit war für sie kein Hindernis; Fußball ist schließlich ein Erlebnis für Augenmenschen. Wenn sie Zeit hat, feuert Martina B. den FC Bayern bis heute bei jedem Heimspiel an. Sie ist eine der rund 38.000 glücklichen Bayern-Fans, die sich rechtzeitig eine Jahreskarte gesichert haben. Inzwischen heißt es auf der Website des Superlative-Vereins zum Thema Jahreskarte: „Zuteilungs-Aussicht leider chancenlos!“

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Martina B. in der Allianz Arena …
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… und im Stadion des Erzrivalen Borussia Dortmund.

2013 brach Martina B. in eine weitere Männerdomäne ein und wurde Vorsitzende eines Fanclubs – des Red Deaf FC Bayern München Fanclub. Sie bestellt die Tageskarten für die Heimspiele und verteilt sie an die Fanclub-Mitglieder. Gelingt es ihr, Karten für Auswärtsspiele zu ergattern, organisiert Martina B. die Besuche. Sie hält Kontakt zu anderen DEAF-Fanclubs und arbeitet eng mit Kim Krämer zusammen, dem Behindertenfanbeauftragten des FC Bayern und Vorstandsvorsitzenden des Rollwagerl 93 e. V.

Gehörlose Fußballfans organisieren sich in DEAF-Fanclubs. Sie wählten das englische Wort DEAF (deutsch: (hochgradig) schwerhörig, gehörlos, taub), weil es „nicht nur den Hörverlust beschreibt, sondern auch die kulturelle Gebärdensprachgemeinschaft definiert“ (Quelle: Dachverband Deutscher DEAF Fanclubs e. V. – Wer sind wir?).

Wer nicht hören kann, will sehen und spüren

Wer nicht hören kann, will sehen und spüren. Freie Sicht aufs Spielfeld ist für gehörlose Fußballfans noch wichtiger als für hörende. Doch die Aktion auf dem Rasen ist nicht alles. Das Erlebnis Fußball steht und fällt mit der Stimmung in den Zuschauerrängen, dem unermüdlichen Anfeuern, mit La Ola und gemeinsamem Hüpfen, dem explodierenden Jubel, dem Stöhnen aus Zehntausenden Kehlen, dem Lachen, den Tränen. „Die beiden Blöcke für Menschen mit Behinderung sind direkt neben der Südkurve“, schildert Martina B. Auf den Stehplätzen der Südkurve drängen sich bekanntlich die Fans, deren Herzen so laut schlagen, dass man es im ganzen Stadion spürt; hier geben die Ultras den Takt der Leidenschaft vor. „So können wir die Stimmung miterleben und den Lärm fühlen. Also, das sind tolle Sitzplätze.“

Fußball digital: Kommentare in Echtzeit auf den Brillengläsern

Was sagt der Stadionsprecher? Was singen die gegnerischen Fans? Was erzählen die Interviewpartner in der Halbzeitpause? Diese Informationen runden das Stadionerlebnis ab. In der Allianz Arena konnten hörgeschädigte Fußballfans sie bislang über eine App mitlesen. An einem neuen Angebot hat der FC Bayern monatelang getüftelt: Gemeinsam mit dem Hersteller bietet er nun eine Augmented-Reality-Brille oder kurz AR-Brille an. Das englische Wort „augmented“ bedeutet: erweitert. Eine AR-Brille ergänzt das, was ein Mensch in seiner Umgebung sieht, um zusätzliche Einblendungen. In der Allianz Arena werden die Kommentare des Stadionsprechers in Echtzeit verschriftet und auf die Brillengläser gespielt. Was die gehörlosen Fans im Stadion sehen, wird so um den Kommentar ergänzt.

Martina B. hat an der Einführung mitgewirkt. „Ich finde echt super, dass der FC Bayern auch an hörgeschädigte Menschen denkt. Die Verantwortlichen geben sich wirklich Mühe, damit wir mitbekommen, was der Stadionsprecher sagt“, lobt Martina B. „Ich war überrascht, als ich erfuhr, dass ich die neue digitale Brille ausprobieren sollte. Beim ersten Test waren wir zu viert. Die Schrift direkt vor den Augen zu haben, fühlte sich erst seltsam an. Aber man kann sich schnell daran gewöhnen. Bei hellem Licht kann man den Text manchmal schwer lesen; am besten funktioniert die Brille sicher in einem dunklen Raum, z. B. im Kino oder Theater. Und schade ist, dass Brillenträger die digitale Brille nicht nutzen können. Aber ich bin überzeugt, dass der FC Bayern an der Verbesserung arbeitet, damit eines Tages alle hörgeschädigten Fans alles mitbekommen. Wenn der Text z. B. zusätzlich auf LED-Bannern oder der Stadiontafel angezeigt würde, dann könnten alle gehörlosen Menschen mitlesen, unabhängig von der Zahl der digitalen Brillen.“

Nervenkitzel und Gemeinschaftsgefühl

Mehr erleben, noch stärker teilhaben – das ist das Ziel. Begeistert ist Martina B. schon heute. Sie liebt den Nervenkitzel spannender Spiele genauso wie das Gemeinschaftsgefühl. „Wir vom Fanclub haben einen eigenen Stammtisch im Fantreff. Zwei Stunden vor dem Spiel wird das Stadion geöffnet; dann treffen wir uns dort und genießen die Vorfreude aufs Spiel. Und nach dem Spiel treffen wir uns wieder und unterhalten uns weiter, bis das Stadion geschlossen wird.“

Dabei wird natürlich auch viel über die Spieler diskutiert. Jedes Mal den Namen mit den Fingern zu buchstabieren, wäre allerdings mühsam. Deshalb geben gehörlose Menschen anderen jeweils eine Namensgebärde. Sie wird z. B. von einer bestimmten Eigenschaft der Person oder der Bedeutung seines Namens abgeleitet. Martina B. erklärt: „Franck Ribéry hat rechts eine Narbe, deshalb gebärden wir eine Narbe auf der rechten Kopfhälfte. Für Manuel Neuer verwenden wir die Gebärde für `neu´. Jérôme Boateng heißt `Kappe´, weil er gerne Kappen trägt. Und weil `Lahm´ so ein kurzer Name ist, verwenden wir einfach den Buchstaben `L´, wenn wir über Philipp Lahm sprechen.“

Der Dachverband Deutscher DEAF Fanclubs e. V. beschreibt auf seiner Website, was ein barrierefreies Fußballerlebnis für hörgeschädigte und gehörlose Fans bedeutet. Für Fußballstadien fordert er u. a.

  • Beschäftigte im Stadion für die Bedürfnisse von hörgeschädigten Menschen zu sensibilisieren. Bei jedem Spiel sollte ein Beschäftigter im Stadion die Deutsche Gebärdensprache beherrschen, alle anderen z. B. Block und Stift dabeihaben.
  • für hörgeschädigte Menschen Plätze ohne Sichtbehinderung (gerne auch gemeinsam mit den Fans der gegnerischen Mannschaft) und zu ermäßigten Preisen anzubieten.
  • alle akustischen Informationen (Sprache, Gesang, Tonsignale usw.) auch sichtbar zu machen – vom Sicherheitshinweis bis zum Interview in der Halbzeitpause – z. B. durch Untertitel auf der Anzeigentafel und Blinkwarnlichter.

Und für alle, die nicht im Stadion dabei sein können:

  • Übertragungen und Sendungen im Fernsehen, auf den Websites und YouTube-Kanälen mit Untertiteln zu versehen.

Hermann S. begann seine sportliche Laufbahn als vierjähriger Straßenfußballer. Es waren die 1950er-Jahre im oberfränkischen Hof und die meisten Straßen noch keine Gefahrenzonen, sondern prima Bolzplätze. Etliche Fußballjahre und einen Armbruch später entdeckte Hermann S. seine Liebe zur Leichtathletik. Sein Ziel: die olympischen Spiele 1972 in München. Für die aktive Teilnahme reichte es nicht ganz. Doch Hermann S. fand heraus: Zuschauen ist auch ein packendes Erlebnis, besonders in den großen Arenen. Seither pendelt er regelmäßig zum Fußballgucken von Hof nach München, erst zum Olympiastadion, ab 2005 zur Allianz Arena.

In den 1990er-Jahren bekam Hermann S. Probleme mit den Augen. Sein Arzt stellte eine Makula-Degeneration fest. Diese unheilbare Erkrankung der Netzhaut schwächt zunehmend die Sehkraft. Heute hat Hermann S. noch einen Sehrest von zwei bis fünf Prozent. Praktisch bedeutet das für ihn: Er kann Umrisse erkennen und sich selbstständig in einer bekannten Umgebung bewegen. Lesen geht nicht mehr, fernsehen auch nicht. Um seine Sehschwäche auszugleichen, bräuchte er Brillengläser mit einer Stärke von minus 40 Dioptrien. „Die gibt es nicht“, sagt Hermann S. Bis vor einigen Jahren spielte er noch Tennis, fuhr Alpinski (immer einem Begleiter im signalroten Anorak hinterher), radelte mit seiner Frau auf barrierefreien Routen. Heute kickt er in seiner Altherren-Mannschaft; die Sehkraft der Gegner gleicht er durch Laufstärke aus.

Die Maßeinheit Dioptrie beschreibt den Grad der Fehlsichtigkeit. Sie ist der Kehrwert eines Meters.

Beispiele: Was bedeutet eine Fehlsichtigkeit von …

… minus einer Dioptrie? Ein Mensch sieht Objekte nur bis 1 m Entfernung scharf (1 m geteilt durch 1 = 1 m).

… minus vier Dioptrien? Ein Mensch sieht Objekte nur bis zu 25 cm Entfernung scharf (1 m geteilt durch 4 = 0,25 m).

… minus 40 Dioptrien? Ein Mensch sieht Objekte nur bis zu 2,5 cm Entfernung scharf (1 m geteilt durch 40 = 0,025 m).

Ein Ohr für die Stimmung, eins für die „sprechenden Augen“

Alle paar Wochen fährt Hermann S. zu Heimspielen des FC Bayern, dreieinhalb Stunden einfach im Regionalzug von Hof nach München. „Zehn- oder zwölfmal im Jahr bewerbe ich mich um eine Karte, jedes zweite Mal klappt es“, sagt er. 20 Karten für Menschen mit Sehbehinderung und ebenso viele für ihre Begleitpersonen gibt der FC Bayern pro Heimspiel aus. Das macht Hermann S. zu einem begehrten Mann, viele Bekannte bieten sich gerne als Begleiter an. „Ich führe eine Warteliste.“

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Jetzt geht’s looo-hooos: Hermann S. im Fußballstadion.
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Um mehr vom Spiel zu erleben, benutzt er ein Fernglas.

Im Stadion holt Hermann S. einen Funkempfänger ab. Den Leih-Kopfhörer braucht er nicht, er hat seinen eigenen dabei. Vor dem Anpfiff setzt er ihn auf ein Ohr, das andere lässt er unbedeckt, um die Atmosphäre im Stadion aufzusaugen. Dann richtet er sein Fernglas aufs Spielfeld. Und schon startet der Livekommentar: Zwei Stadionreporter kommentieren im fliegenden Wechsel jedes Spiel für die blinden und sehbehinderten Fußballfans. Damit die Fans jede Aktion in Echtzeit miterleben können, verwandeln sich die Reporter für zweimal 45 Minuten in sprechende Augen. Wenn Zehntausende in den Rängen aufstöhnen, wenn aufbrandende Jubelschreie abrupt abreißen, wenn die Spannung sich aufbaut, bis sie über die Haut prickelt – dann sollen ihre Zuhörerinnen und Zuhörer ohne Verzögerung teilhaben.

Marius Achatz ist einer von fünf Sehbehinderten-Kommentatoren in der Allianz Arena. Er hat Sportwissenschaften studiert; heute arbeitet als Redakteur für fcbayern.com. Anders als seine TV-Kollegen verzichtet er beim Kommentieren auf Analysen und ist ganz Auge: „Wo befindet sich der Ball, welcher Spieler ist am Ball, welche Spielminute läuft gerade? Was passiert neben dem Rasen? Warum geht ein Raunen durchs Stadion: Ah, Thomas Müller macht sich für die Einwechslung bereit … Wir schildern, was passiert; Hintergrundinfos geben wir nur, wenn ein Spiel Längen hat.“ Alle fünf Minuten wechseln sich die beiden Kommentatoren ab. „Es ist ziemlich anstrengend, unentwegt zu reden. Aber würden wir eine Pause machen, dann würden die Fans glauben, ihr Gerät sei kaputt. Und auf jeden Fall würden sie sich vom Geschehen abgeschnitten fühlen.“ Also fliegt der Ball nicht nur auf dem Rasen, sondern auch zwischen den Reportern hin und her. Dem Hörerlebnis tut das gut, findet Marius Achatz: „Die schnellen Wechsel bringen noch mehr Dynamik in die Reportage.“

Dazugehören: einfach unschlagbar

In der U-Bahn auf dem Weg zur Arena und im Stadion, schildert Hermann S., habe er nur gute Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht: „Wenn man Bayern-Fan ist, dann gehört man dazu. Die anderen rücken zusammen, bieten einen Sitzplatz oder Hilfe an.“ Außerhalb der Fangemeinde muss Hermann S. selbst auf andere zugehen, wenn er Unterstützung braucht. „Und sehr bestimmt fragen.“

Hermann S. mag das Wort Behinderung nicht. Er sagt lieber: „Handicap. Klar, das bedeutet das Gleiche. Aber ich finde, Handicap klingt nicht so abwertend. Beim Golfspiel bezeichnet das Handicap sogar einen Vorteil!“ Im Fußballstadion fühlt sich Hermann S. ohnehin nicht behindert. „Die Atmosphäre, die Stimmung, das ist unschlagbar. Das bekommt man nicht mit vor dem Fernseher oder dem Radio – dieses Gefühl, dazuzugehören, einer von 75.000 zu sein.“

Marius Achatz‘ Tipp: Beim nächsten Besuch in der Allianz Arena ins WLAN einloggen und die FC-Bayern-App öffnen: Dort können Sie die Kommentare für sehbehinderte Fans mitverfolgen!

Dass Familie H. aus Tutzing dem Fußball verfiel, fast jedes zweite Wochenende in voller Montur, mit Mütze, Schal und Fanshirt in die Allianz Arena pilgert, ist reiner Zufall. Das Ehepaar H. hat zwei Töchter, Zwillinge. Eine der beiden, Susanne, kam mehrfachbehindert zur Welt. Heute ist Susanne H. 41 Jahre alt. Sie sitzt im Rollstuhl, kann ihre Arme nur eingeschränkt bewegen, hat eine geistige Behinderung. Sie lebt bei ihren Eltern; tagsüber besucht sie eine Förderstätte in München. Am Leben teilzuhaben, genießt Susanne H. sehr. Deshalb sagte Familie H. spontan zu, als Bekannte sie Anfang der 90er-Jahre zu einer Veranstaltung im Olympiastadion einluden. Noch am selben Tag wurde der Rollwagerl 93 e. V. aus der Taufe gehoben, der Verein der FC-Bayern-Fans im Rollstuhl.

„Das war anfangs eine sehr kleine Gemeinschaft“, erinnert sich Oskar H., der Vater von Susanne H. „Aber sehr schön. Die Menschen mit Rollstuhl hatten Plätze in der Nähe der Südkurve, direkt am Zugang zum Spielfeld. Oft sind die Spieler nach den Spielen stehen geblieben und haben sich mit uns unterhalten. Da sind teilweise enge Freundschaften entstanden.“

Menschen mit Behinderung in die Planung einbezogen

Ganz so dicht dran sind die Fußballfans mit Rollstuhl in der 2005 eröffneten Allianz Arena nicht mehr. Spitzenplätze haben sie trotzdem. „Der FC Bayern hat bei der gesamten Planung den Rollwagerl e. V. mit einbezogen“, schildert der Vater. „Die Barrierefreiheit wurde sehr gut und weitreichend umgesetzt – und wird heute immer noch weiterentwickelt.“

Die oberste Reihe des Unterrangs ist für 227 Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer und ihre Begleitung reserviert. Auf die Reihe darunter wurde verzichtet. So haben die Fans im Rollstuhl auch dann freie Sicht auf den Rasen, wenn die Menschen in der Reihe unter ihnen aufspringen. Vor den Rolli-Plätzen gibt es Ablagen, z. B. für Getränke, dahinter erhöhte Sitze für die Begleitpersonen. Ein massives Geländer schützt den Bereich vor dem Gedränge zwischen Rängen und Imbiss. Doch die Planung reichte weit über die Sitzplätze hinaus. 130 Parkplätze sind für Menschen mit Behinderung reserviert; von dort führt eine kurze, barrierefreie Route zur Ebene 2. Der Rollwagerl 93 e. V. hat ein eigenes Stüberl in der Arena – als einziger FC-Bayern-Fanclub überhaupt. Hier können sich die Fans vor dem Spiel und in der Halbzeitpause treffen, gelegentlich schauen die Spieler und Bosse vom FC Bayern vorbei. Und auch wesentlich stillere Örtchen sind ganz auf Menschen mit Behinderung eingestellt. 16 behindertengerechte Toiletten gibt es in der Arena, darunter auch zwei  Toiletten für alle, auf der West- und der Ostseite von Ebene 2. „Toiletten für alle“ sind u. a. mit einer Pflegeliege ausgestattet – und damit auch für Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen geeignet. Ein mobiler Lifter kann ausgeliehen werden.

Einmal die Meisterschale halten: Ein Traum unzähliger Fußballfans ging 2013 für Susanne H. in Erfüllung. Verborgen unter einem Mantel schmuggelte Karl-Heinz Rummenigge die Trophäe durch die Fanmassen hindurch ins Stüberl der Allianz Arena. Dort konnten Mitglieder des Rollwagerl e. V. die Meisterschale aus der Nähe bewundern. Für alle Fußballmuffel: Das Publikum gilt im Fußball als der zwölfte Mann im Team – und hat an der Meisterschaft einen gewichtigen Anteil.

privat

Fit wie Philipp

Tore sind Susanne H. nicht so wichtig. Sie beobachtet gern alle Aktionen, freut sich über ein schönes Spiel ohne Verletzte. „Egal ob sie Fußball im Fernsehen oder im Stadion sieht: Susanne schaut gar nicht so viel aufs Spielfeld, sondern lässt ihren Blick schweifen“, schildert ihr Vater. „Trotzdem bekommt sie alles mit, genießt die Stimmung, schreit bei Toren und Fouls und redet wie ein Wasserfall.“ Der Urbayer Thomas Müller ist einer ihrer Lieblingsspieler. Und den Spieler Philipp Lahm nahm sich Susanne H. zum Vorbild. „Der ist nicht so groß, aber er strengt sich enorm an und flitzt unentwegt, haben wir Susanne immer gesagt“, sagt Oskar H. „Das hat sie angenommen und viel öfter aus eigenem Antrieb zu Hause ihre Übungen gemacht.“

Wenn die Familie H. im Stadion unterwegs ist, erlebt sie überwiegend Fansolidarität. „Es gibt wie überall ein paar Dumme“, stellt der Vater fest, „aber es werden immer weniger. Gerade die Jüngeren reagieren sehr positiv, rücken zur Seite und achten auf Menschen mit Behinderung. Wenn man diese Menschenmassen bedenkt: Es geht eigentlich immer sehr gut.“ Susanne H. und ihre Familie setzen darauf, dass der FC Bayern in der Saison 2016/17 das Triple holt. „Und wenn nicht, macht es auch nichts“, wiegelt Oskar H. ab. „Der wahre Fan zeigt sich auch in der Niederlage.“ Dabeisein ist alles.

Surftipps für Fußballfans mit Behinderung

Hier finden Sie Informationen zur 

In der Allianz Arena gibt es eine „Toilette für alle“ für Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen. Warum „Toiletten für alle“ so wichtig sind, wo man sie findet und vieles mehr erfahren Sie in unserem Beitrag:

Der Rollwagerl 93 e. V. ist der Fanclub des FC Bayern für Menschen im Rollstuhl. Der Verein versteht sich als Anlaufstelle für alle Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, Fans und Gäste. Auch für blinde und sehbehinderte Fans bietet der Rollwagerl 93 e. V. Infos zum Stadion. Er bietet einen Ticketservice, hilft bei der Suche nach behindertengerechten Quartieren und organisiert Auswärtsfahrten mit behindertengerechten Bussen. Außerdem berät er Vereine bei der Planung von barrierefreien Stadien.

Gehörlose Bayern-Fans treffen sich im Red Deaf FC Bayern München Fanclub.

„Barrierefrei ins Stadion“ ist der Online-Reisebegleiter für Menschen mit Behinderung. Die Website bietet u. a. Infos zur Barrierefreiheit in den Stadien der Bundesliga, 2. Bundesliga und 3. Liga. Alle wichtigen Infos findet man auch in Leichter Sprache und als Hörservice für blinde und sehbehinderte Menschen (Bundesliga und 2. Bundesliga).

Im Dachverband deutscher DEAF-Fanclubs e. V. sind mehr als 20 Clubs hörbehinderter Fußballfans von Vereinen aus der Kreisklasse bis zur Bundesliga zusammengeschlossen. Zu den Zielen des Verbands gehört ein optimales Stadionerlebnis für alle hörbehinderten Menschen – und damit die uneingeschränkte Teilhabe an der Fankultur.

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