Frauen werden mitunter bis heute als Pseudo-Fans geschmäht, die sich weniger fürs Spiel begeistern als für knackige Spielerkörper und überhaupt nur WM gucken. Martina B. tritt den Gegenbeweis an. Schon als Kind fieberte sie neben ihrem Vater vor dem Fernseher, wenn Fußball übertragen wurde. „Irgendwann hat er mich zu einem Heimspiel des FC Bayern ins Olympiastadion mitgenommen, ich dürfte zehn oder elf Jahre alt gewesen sein.“ Als Exotin kam sie sich überhaupt nicht vor. „Ich habe mich sofort wohlgefühlt und feuerte begeistert mit an. In meiner Schule gab es auch Fans und wir konnten uns austauschen. Als ich 14 war, ging ich schon regelmäßig ins Olympiastadion.“ Ihre Gehörlosigkeit war für sie kein Hindernis; Fußball ist schließlich ein Erlebnis für Augenmenschen. Wenn sie Zeit hat, feuert Martina B. den FC Bayern bis heute bei jedem Heimspiel an. Sie ist eine der rund 38.000 glücklichen Bayern-Fans, die sich rechtzeitig eine Jahreskarte gesichert haben. Inzwischen heißt es auf der Website des Superlative-Vereins zum Thema Jahreskarte: „Zuteilungs-Aussicht leider chancenlos!“
2013 brach Martina B. in eine weitere Männerdomäne ein und wurde Vorsitzende eines Fanclubs – des Red Deaf FC Bayern München Fanclub. Sie bestellt die Tageskarten für die Heimspiele und verteilt sie an die Fanclub-Mitglieder. Gelingt es ihr, Karten für Auswärtsspiele zu ergattern, organisiert Martina B. die Besuche. Sie hält Kontakt zu anderen DEAF-Fanclubs und arbeitet eng mit Kim Krämer zusammen, dem Behindertenfanbeauftragten des FC Bayern und Vorstandsvorsitzenden des Rollwagerl 93 e. V.
Gehörlose Fußballfans organisieren sich in DEAF-Fanclubs. Sie wählten das englische Wort DEAF (deutsch: (hochgradig) schwerhörig, gehörlos, taub), weil es „nicht nur den Hörverlust beschreibt, sondern auch die kulturelle Gebärdensprachgemeinschaft definiert“ (Quelle: Dachverband Deutscher DEAF Fanclubs e. V. – Wer sind wir?).
Wer nicht hören kann, will sehen und spüren
Wer nicht hören kann, will sehen und spüren. Freie Sicht aufs Spielfeld ist für gehörlose Fußballfans noch wichtiger als für hörende. Doch die Aktion auf dem Rasen ist nicht alles. Das Erlebnis Fußball steht und fällt mit der Stimmung in den Zuschauerrängen, dem unermüdlichen Anfeuern, mit La Ola und gemeinsamem Hüpfen, dem explodierenden Jubel, dem Stöhnen aus Zehntausenden Kehlen, dem Lachen, den Tränen. „Die beiden Blöcke für Menschen mit Behinderung sind direkt neben der Südkurve“, schildert Martina B. Auf den Stehplätzen der Südkurve drängen sich bekanntlich die Fans, deren Herzen so laut schlagen, dass man es im ganzen Stadion spürt; hier geben die Ultras den Takt der Leidenschaft vor. „So können wir die Stimmung miterleben und den Lärm fühlen. Also, das sind tolle Sitzplätze.“
Fußball digital: Kommentare in Echtzeit auf den Brillengläsern
Was sagt der Stadionsprecher? Was singen die gegnerischen Fans? Was erzählen die Interviewpartner in der Halbzeitpause? Diese Informationen runden das Stadionerlebnis ab. In der Allianz Arena konnten hörgeschädigte Fußballfans sie bislang über eine App mitlesen. An einem neuen Angebot hat der FC Bayern monatelang getüftelt: Gemeinsam mit dem Hersteller bietet er nun eine Augmented-Reality-Brille oder kurz AR-Brille an. Das englische Wort „augmented“ bedeutet: erweitert. Eine AR-Brille ergänzt das, was ein Mensch in seiner Umgebung sieht, um zusätzliche Einblendungen. In der Allianz Arena werden die Kommentare des Stadionsprechers in Echtzeit verschriftet und auf die Brillengläser gespielt. Was die gehörlosen Fans im Stadion sehen, wird so um den Kommentar ergänzt.
Martina B. hat an der Einführung mitgewirkt. „Ich finde echt super, dass der FC Bayern auch an hörgeschädigte Menschen denkt. Die Verantwortlichen geben sich wirklich Mühe, damit wir mitbekommen, was der Stadionsprecher sagt“, lobt Martina B. „Ich war überrascht, als ich erfuhr, dass ich die neue digitale Brille ausprobieren sollte. Beim ersten Test waren wir zu viert. Die Schrift direkt vor den Augen zu haben, fühlte sich erst seltsam an. Aber man kann sich schnell daran gewöhnen. Bei hellem Licht kann man den Text manchmal schwer lesen; am besten funktioniert die Brille sicher in einem dunklen Raum, z. B. im Kino oder Theater. Und schade ist, dass Brillenträger die digitale Brille nicht nutzen können. Aber ich bin überzeugt, dass der FC Bayern an der Verbesserung arbeitet, damit eines Tages alle hörgeschädigten Fans alles mitbekommen. Wenn der Text z. B. zusätzlich auf LED-Bannern oder der Stadiontafel angezeigt würde, dann könnten alle gehörlosen Menschen mitlesen, unabhängig von der Zahl der digitalen Brillen.“
Nervenkitzel und Gemeinschaftsgefühl
Mehr erleben, noch stärker teilhaben – das ist das Ziel. Begeistert ist Martina B. schon heute. Sie liebt den Nervenkitzel spannender Spiele genauso wie das Gemeinschaftsgefühl. „Wir vom Fanclub haben einen eigenen Stammtisch im Fantreff. Zwei Stunden vor dem Spiel wird das Stadion geöffnet; dann treffen wir uns dort und genießen die Vorfreude aufs Spiel. Und nach dem Spiel treffen wir uns wieder und unterhalten uns weiter, bis das Stadion geschlossen wird.“
Dabei wird natürlich auch viel über die Spieler diskutiert. Jedes Mal den Namen mit den Fingern zu buchstabieren, wäre allerdings mühsam. Deshalb geben gehörlose Menschen anderen jeweils eine Namensgebärde. Sie wird z. B. von einer bestimmten Eigenschaft der Person oder der Bedeutung seines Namens abgeleitet. Martina B. erklärt: „Franck Ribéry hat rechts eine Narbe, deshalb gebärden wir eine Narbe auf der rechten Kopfhälfte. Für Manuel Neuer verwenden wir die Gebärde für `neu´. Jérôme Boateng heißt `Kappe´, weil er gerne Kappen trägt. Und weil `Lahm´ so ein kurzer Name ist, verwenden wir einfach den Buchstaben `L´, wenn wir über Philipp Lahm sprechen.“
Der Dachverband Deutscher DEAF Fanclubs e. V. beschreibt auf seiner Website, was ein barrierefreies Fußballerlebnis für hörgeschädigte und gehörlose Fans bedeutet. Für Fußballstadien fordert er u. a.
- Beschäftigte im Stadion für die Bedürfnisse von hörgeschädigten Menschen zu sensibilisieren. Bei jedem Spiel sollte ein Beschäftigter im Stadion die Deutsche Gebärdensprache beherrschen, alle anderen z. B. Block und Stift dabeihaben.
- für hörgeschädigte Menschen Plätze ohne Sichtbehinderung (gerne auch gemeinsam mit den Fans der gegnerischen Mannschaft) und zu ermäßigten Preisen anzubieten.
- alle akustischen Informationen (Sprache, Gesang, Tonsignale usw.) auch sichtbar zu machen – vom Sicherheitshinweis bis zum Interview in der Halbzeitpause – z. B. durch Untertitel auf der Anzeigentafel und Blinkwarnlichter.
Und für alle, die nicht im Stadion dabei sein können:
- Übertragungen und Sendungen im Fernsehen, auf den Websites und YouTube-Kanälen mit Untertiteln zu versehen.