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Ein Tag … an der Uni Würzburg

Würzburg, Oktober 2018. Die Julius-Maximilians-Universität Würzburg schaut auf eine lange Geschichte zurück. 1895 entdeckte der Physiker Conrad Wilhelm Röntgen hier die nach ihm benannten Strahlen. Gerade wurde beschlossen, dass die Universität ein Kompetenzzentrum für künstliche maschinelle Intelligenz aufbaut. Doch nicht nur in Sachen Forschung ist die Uni engagiert – auch die Barrierefreiheit spielt seit vielen Jahren eine bedeutende Rolle. Wir haben einen Tag auf dem weitläufigen Campus rund um das Hubland und den Sanderring verbracht und gesehen, wie vielschichtig Barrierefreiheit ist. Wir haben Fachleute sowie Menschen mit Behinderung getroffen und beim Behindertensport zugeschaut. Ein Fazit: Es zählen die kleinen ebenso wie die großen Schritte – denn auch diese können viel verändern.

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Unsere Gesprächspartnerinnen und -partner

Porträtfoto: Sandra Mölter.

Sandra Mölter beschäftigt sich schon lange mit dem Thema „Studieren mit Behinderung und chronischer Erkrankung“. Sie selbst hat mit einer Behinderung Abitur gemacht und studiert. 2010 hat sie die Leitung der Kontakt- und Informationsstelle für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung (KIS) übernommen.

Porträtfoto: Leonard Zenke.

Leonard Zenke arbeitet in der Unibibliothek in Würzburg. Über einen Fachbereich der Mainfränkischen Werkstätten startete er als Praktikant, heute ist er im Rahmen eines Außenarbeitsplatzes fest angestellt. Aufgrund einer Tetraspastik sitzt er im Rollstuhl.

Porträtfoto: Unipräsident Alfred Forchel.

Prof. Dr. Alfred Forchel war an der Uni Würzburg zunächst am Lehrstuhl für technische Physik im Bereich Nanotechnologie tätig. Als Präsident der Universität (2009 bis 2021) trieb er u. a. die Themen Forschung und Lehre voran.

Porträtfoto: Christoph Wendel.

Christoph Wendel hat eine angeborene genetisch bedingte Muskelkrankheit, die häufig als „Muskelschwund“ bezeichnet wird. Er besuchte eine Regelschule, machte Abitur und studierte schließlich Physik an der Uni Würzburg. Seit seinem Abschluss 2013 promoviert er am Lehrstuhl für Astrophysik und ist außerdem als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.

10:00 Uhr: Wir starten mit der KIS

Ein riesiger Campus, mehrere Studiengebäude verteilt über die ganze Stadt und derzeit etwa 28.000 Studierende – unser Besuch an der Uni Würzburg beginnt und führt uns zuerst zu Sandra Mölter, Leiterin der Kontakt- und Informationsstelle für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung (KIS). Seit 2010 berät sie Studieninteressierte und Studierende. Auch Absolventinnen und Absolventen mit Behinderung und chronischer Erkrankung finden hier Unterstützung: Der Übergang von der Hochschule in den Beruf ist Sandra Mölter sehr wichtig. Außerdem koordiniert sie den sogenannten Umsetzungsdienst für blinde und sehbehinderte Studierende. „Wir bereiten u. a. Folien für Vorlesungen barrierefrei auf – in Blindenschrift oder in Großdruck“, erklärt Sandra Mölter. Ein Hilfsmittelpool gehört ebenfalls zur Informationsstelle. Hier gibt es beispielsweise Tafelbildkameras (das Tafelbild wird auf den Laptop von sehbehinderten Studierenden übertragen) und induktive Höranlagen für Studierende mit einer Hörbehinderung.

Aha!

Seit 2008 gibt es an der Uni Würzburg die Kontakt- und Informationsstelle für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung (KIS). Zu den Angeboten gehören z. B.:

  • Beratung für Studieninteressierte und Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung
  • Aufbereitung von Studienmaterialien für Studierende mit Sehbehinderung
  • Hilfsmittelpool für Studierende und Studienassistenz
  • Unterstützung von Studierenden sowie allen Lehrenden und Gremien der Universität in didaktischen, baulichen, sozialrechtlichen und organisatorischen Angelegenheiten
  • Informationsmaterialien für ein erfolgreiches Studium

Mehr erfahren: Hier finden Sie weitere Infos der KIS

Ein weiteres wichtiges Thema ist der Nachteilsausgleich. Denn viele Studierende brauchen einfach mehr Zeit – wenn sie z. B. oft medizinisch versorgt werden müssen oder nur langsam lesen können. Die Klausurzeit wird verlängert, die Studienplanung individuell gestaltet. „Wir passen den Studienplan der Betroffenen mit einer reduzierten Stundenzahl an“, erläutert Sandra Mölter. „Langsam zu studieren ist wichtig! Zwölf Semesterwochenstunden reichen oft – gerade bei psychischen Erkrankungen.“ So verlängert sich die Regelstudienzeit – „das ist für Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung oft notwendig.“

Die Leiterin der KIS begleitet Studierende auch bei der Wiedereingliederung, u. a. nach längerer stationärer Behandlung. Sie bearbeitet Anfragen aus der Politik, schreibt Stellungnahmen, koordiniert das Netzwerk der bayerischen Beauftragten für Studierende mit Behinderung. Sie organisiert Fortbildungen und fördert damit den Austausch zwischen den Behindertenbeauftragten. Zudem unterstützt sie die Studierenden bei der Suche nach barrierefreiem Wohnraum und arbeitet mit dem Studentenwerk Würzburg zusammen. „Wichtig ist auch, dass die Studierenden wissen, dass es KIS überhaupt gibt.“ Deshalb weist Sandra Mölter auch bei Einführungsveranstaltungen auf die Beratung hin.

Langsam zu studieren ist wichtig! Zwölf Semesterwochenstunden reichen oft – gerade bei psychischen Erkrankungen.

Sandra Mölter weiß, wovon sie in ihrer Beratung spricht. Sie selbst hat mit einer nicht sichtbaren Behinderung studiert und bis heute chronische Schmerzen. „Wenn jemand Berührungsängste hat, sage ich auch mal, dass ich selber betroffen bin“, erläutert sie. „Das nimmt die Hemmungen.“ Ihr Wunsch: „Eine Sensibilität auch für Menschen mit einer nicht sichtbaren Behinderung – ich persönlich habe damit oft zu kämpfen.“

Pro Jahr studieren an der Uni Würzburg etwa 350 bis 400 Menschen, die ihre Behinderung bekannt machen. „In meine Beratung kommen vor allem Studierende mit einer psychischen Erkrankung, also z. B. mit einer Depression oder Angststörung“, beschreibt Sandra Mölter. Körper-, Seh- oder Hörbehinderungen kommen seltener vor (sie liegen bei sechs Prozent). „Ein Grund dafür ist aber auch, dass die Betroffenen oft ihre eigenen Hilfsmittel mitbringen und unseren Pool gar nicht nutzen müssen.“ Was sie beobachtet: „Inzwischen trauen sich mehr Menschen, mit Behinderung zu studieren.“

Mehr Infos zum Thema „Studieren mit Behinderung“ liefert die Website „Studieren in Bayern“.

Schrittweise vorwärts

In den letzten Jahren ist an der Uni in Sachen Barrierefreiheit viel passiert – gerade bauliche Maßnahmen wurden umgesetzt. Barrierefreiheit nützt allen. Ein Beispiel: Die Universitätsbibliothek ist seit einiger Zeit durch eine selbstöffnende Schiebetür zugänglich – das kommt allen Studierenden zugute. Auch neue Aufzüge und Behinderten-WCs wurden eingerichtet, eines mit einer Liege ausgestattet. Immer wieder ist auch der Denkmalschutz ein Thema: So schaffen z. B. in der Residenz oder im Geografiegebäude mobile Rampen einen barrierefreien Zugang; die historische Bausubstanz bleibt unberührt. Welche Herausforderungen gibt es? „Ich denke, es gibt auch Grenzen der Barrierefreiheit“, erklärt Sandra Mölter. So ist es in einem Bestandsgebäude oft nicht möglich, jeden einzelnen Raum barrierefrei zu gestalten – „da muss man schrittweise nach individuellen Lösungen schauen.“ Wenn es möglich ist, werden Vorlesungen verlegt.

Sandra Mölter bedient eine induktive Höranlage.

Die KIS stellt unterschiedliche Hilfsmittel für Vorlesungen und Seminare zur Verfügung – Studierende mit einer Hörbehinderung können sich z. B. eine induktive Höranlage ausleihen, die Sandra Mölter hier vorführt.

Nahaufnahme: Induktive Höranlage mit Sender und Empfänger.

Die Dozierenden tragen das Mikrofon, die Studierenden den Empfänger. Über ihr Hörgerät wird das Gesprochene weitergegeben. „Unsere Lehrkräfte sind sensibilisiert und nutzen die Hilfsmittel wirklich“, betont Sandra Mölter.

11:10 Uhr: Aus Assistenz wird Freundschaft

Studierende mit Behinderung werden bei Bedarf von der KIS mit einer Studienassistenz unterstützt. Diese Person begleitet die Studierenden z. B. in Vorlesungen, fertigt Mitschriften an und ist eine vertraute Begleitung. So hilft die Studienassistenz bei Anträgen und Anmeldungen zu Prüfungen. Sandra Mölter ist es wichtig, dass die Studienassistenz aus demselben Fachbereich wie die oder der Betroffene kommt. Auch Menschen mit Behinderung, die z. B. im Rollstuhl sitzen, übernehmen die Aufgabe der Studienassistenz. Wir treffen Christina Bader, die seit 2016 für die KIS arbeitet und eine Studentin mit Behinderung begleitet.

Sie assistiert Steffi – einer Studentin, die vor mehreren Jahren einen Tumor hatte. Nachdem dieser entfernt wurde, hatte Steffi starke motorische Einschränkungen. Heute sind sie fast vollständig behoben, jedoch kann die Studentin z. B. nicht so lange am Stück schreiben. Deshalb unterstützt Christina Bader sie vor allem bei Klausuren. In einem Raum der KIS bringt Christina zu Papier, was Steffi ihr sagt. Berührungsängste hatte Christina Bader nie – heute ist sie mit „ihrer Studentin“ gut befreundet. Und was bedeutet Barrierefreiheit für Christina Bader? „Dass sich die Gesellschaft und die Umwelt an Menschen mit Behinderung anpassen sollten – nicht umgekehrt.“

Porträtfoto: Christina Bader.

Christina Bader studiert Lehramt für Sonderpädagogik an der Universität Würzburg.

11:30 Uhr: Zur Bücherausgabe bei Leonard Zenke

Das Gespräch mit Christina Bader dauert nicht lange, sie muss schnell wieder los – zu ihrem Basketball-Examen. Weiter geht’s zur Uni-Bibliothek. Hier erwarten uns Leonard Zenke und seine Vorgesetzte Kerstin Diesing. 2015 kam Leonard Zenke über den Fachbereich „INklusiv! Gemeinsam arbeiten“ der Mainfränkischen Werkstätten an seinen heutigen Arbeitsplatz in der Bibliothek. Nach seinem Abschluss an der Berufsschule im Verein für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung zog er in ein Wohnheim, heute lebt er in einer Dreier-WG im ambulant unterstützten Wohnen. Zweimal in der Woche kommt ein Assistent und hilft ihm bei der Hausarbeit, Behördengängen oder seiner Freizeitgestaltung. Bevor er in der Bibliothek angestellt war, arbeitete Leonard Zenke in einer Werkstatt für behinderte Menschen. „Das war aber nichts für mich, ich wollte einen festen Job und mit Menschen zu tun haben“, betont der junge Mann, der seit seiner Geburt eine Tetraspastik hat. Das bedeutet: Seine Muskeln sind zu jeder Zeit angespannt. Deshalb sitzt Leonard Zenke im Rollstuhl. Hauptsächlich sind seine Beine betroffen, die Arme weniger. So kann er problemlos am Computer arbeiten – „oder in meiner Freizeit mit meinem Bruder Spiele zocken.“ Er ist aber auch gerne an der frischen Luft, trifft sich mit Freunden, fiebert im Fußballstadion mit seiner Lieblingsmannschaft mit und fährt mit seinem Handbike – zweimal in der Woche 40 Kilometer. Sein Motto: „Ziele muss man haben“. Deshalb trainiert er gerade für den Berlin Marathon 2019. „Das ist ein Kindheitstraum“, erzählt Leonard Zenke. „Ich möchte sagen können: Ich war dabei.“

Leonard Zenke mit seiner Chefin und seinen Kolleginnen in der Bibliothek.

Zur Arbeit kommt Leonard Zenke gern. „Meine Kollegen unterstützen mich immer und das Klima ist sehr gut.“ Berührungsängste sind kein Thema. Auch seine Chefin Kerstin Diesing (links im Bild) achtet darauf, dass er z. B. regelmäßig Pausen macht.

Studierende an der Bücherausleihe. Leonard Zenke scannt Bücher ein.

Leonard Zenke an der Bücherausleihe: Die Lehne seines Rollstuhls ist extra niedrig, damit er seinen Rücken frei bewegen kann. „So bleiben meine Muskeln fit“, erklärt er. Stehen kann er auch, allerdings nicht länger als 20 Minuten.

Kleine Dinge machen’s besser

„Herr Zenke ist für uns alle eine Bereicherung“, betont die stellvertretende Leiterin der Bibliothek, Kerstin Diesing. „Er ist in mehrere Teams und Abläufe fest eingebunden, und ohne ihn wäre es an manchen Stellen tatsächlich schwierig.“ Seine Aufgaben sind vielfältig: So ist er u. a. in der Ausleihe und in der Medienbearbeitung der Zentralbibliothek tätig; er unterstützt das Team „Elektronisches Publizieren“ und übernimmt bei Bedarf Tätigkeiten in Teilbibliotheken. Auch auf seine Meinung in Sachen Barrierefreiheit legen alle viel Wert. Oft wird Leonard Zenke gefragt, wie er verschiedene Funktionen einschätzt. Rückmeldung gibt er gerne, ob direkt am Arbeitsplatz oder bei seiner Integrationsbegleiterin. „Wenn ich den Mund nicht aufmache, wird sich auch nichts ändern“, ist er überzeugt. So wurde z. B. die Höhe seines Tisches angepasst; in der Ausleihe steht ein mobiler Heizlüfter neben seinem Platz. „Es sind die kleinen Dinge, die das Arbeitsleben angenehmer gestalten“, sagt Leonard Zenke. Und was bedeutet Barrierefreiheit noch für ihn? „Dass man so anerkannt wird, wie man ist. Ob jemand im Rollstuhl sitzt oder einfach anders ist – eigentlich sind wir alle gleich. Für mich ist es aber auch wichtig, gut in einen Zug und zur Arbeit zu kommen.“

12:40 Uhr: Hallo, Herr Präsident!

Von der Bibliothek am Hubland geht es einmal quer durch die Stadt zum Sanderring, wo wir den Unipräsidenten Prof. Dr. Alfred Forchel treffen – trotz seines straffen Terminplans nimmt er sich die Zeit. Barrierefreiheit sei ihm ein echtes Anliegen. „Seit ich in den 1990er-Jahren an die Uni kam, hat sich dieses Thema deutlich entwickelt“, betont Alfred Forchel. Erste Berührungspunkte hatte er als Mitglied des Senats durch die Gründung der KIS 2008. „Es war ein schönes Hineinwachsen in dieses Thema“, erinnert sich der Präsident. Über die Jahre habe sich viel getan, es wurden viele Anliegen vorgebracht und umgesetzt – z. B. der Nachteilsausgleich und die Studienassistenz. Erfreulich: Diese Entwicklung hat sich auch auf andere Universitäten und Fachhochschulen ausgewirkt. „Es ist ein richtiges Netzwerk aus den Beauftragten für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung entstanden“, freut sich Alfred Forchel.

Alfred Forchel steht vor dem Universitätsgebäude.

Als Präsident hat Alfred Forchel den Slogan der Universität mitentworfen: „Wissenschaft für die Gesellschaft“.

Im Gremium für Barrierefreiheit liegt der Fokus auf baulichen Veränderungen. „In neuen Gebäuden wird Barrierefreiheit natürlich von Anfang an mitgedacht“, erläutert der Präsident. „Frau Mölter hat schon vieles bewegt und wir sehen immer wieder: Auch mit kleinen Mitteln lassen sich Barrieren abbauen – z. B. mit einer Rampe.“

Alfred Forchel sieht auch Herausforderungen der Barrierefreiheit: „Behinderungen sind sehr vielfältig. Gerade auch für Studierende mit psychischen Erkrankungen möchten wir an der Uni Würzburg noch mehr Angebote schaffen“, verdeutlicht er. Gerade deshalb schätzt er den Austausch mit KIS und sagt: „Ich habe viel dazugelernt. Am Anfang war ich sicher nicht so sensibilisiert – dieses Bewusstsein hat sich entwickelt.“ Für die Zukunft hat er große Pläne: Bauliche Verbesserungen soll es weiterhin geben. „Wir haben immer noch Gebäude, die nicht barrierefrei sind. Bei 200.000 Quadratmetern Fläche wird die Arbeit nicht ausgehen.“ Außerdem möchte er proaktiv jungen Menschen mit Behinderung zeigen, wie sie an der Uni Würzburg studieren und ihre Fähigkeiten nutzen können. „Jeder Mensch soll das tun können, was er sich wünscht. Unsere Gesellschaft kann in Sachen Barrierefreiheit vieles ermöglichen.“

Behinderungen sind sehr vielfältig. Gerade auch für Studierende mit psychischen Erkrankungen möchten wir an der Uni Würzburg noch mehr Angebote schaffen.

14:20 Uhr: Gespräch über andere Galaxien

Christoph Wendel erwartet uns schon – zusammen mit seinem Assistenten Daniel. Sein elektrischer Rollstuhl ist ausgestattet mit einer Ablagefläche für seine Arme und einem Joystick. Mit ihm steuert der junge Mann seinen Rollstuhl. Christoph Wendel kam mit einer spinalen Muskelatrophie zur Welt. Dabei sind nicht die Muskeln selbst beschädigt, sondern die motorischen Nerven, die Signale vom Rückenmark in die Muskeln leiten. Weil die Muskeln nicht mehr aktiviert werden, bauen sie sich ab. Sein zwei Jahre älterer Bruder wurde mit der gleichen Behinderung geboren. „Er hat mir gewissermaßen den Weg geebnet“, berichtet Christoph Wendel. So haben sich seine Eltern bei beiden Kindern dafür eingesetzt, dass sie auf eine Regelschule kommen. Dort hatte er kaum Probleme. Die Lehrkräfte waren zwar anfangs teilweise skeptisch, die Mitschülerinnen und Mitschüler aber immer sehr hilfsbereit. „Vor 20 Jahren war das Thema Behinderung noch nicht so bekannt wie heute“, erinnert sich Christoph Wendel. Aber auch jetzt gebe es noch Berührungsängste. „Viele wissen nicht, wie sie mit Menschen mit Behinderung umgehen sollten. Es fehlt ihnen oft auch einfach die Erfahrung.“ Und wie soll man mit ihm umgehen? „Ganz normal“, sagt Christoph Wendel. „Man kann mich einfach fragen.“

Die Assistenz fährt ihn von A nach B, hält ihm Türen auf, bringt ihn zu Bett. „Auch wenn meine Hand wegrutscht, brauche ich Unterstützung“, erklärt Christoph Wendel. „Sonst kann ich meinen Joystick nicht mehr greifen, um meinen Rollstuhl zu steuern.“ Barrierefreiheit bedeutet für ihn, „mit einer Behinderung möglichst an allen Bereichen des Lebens teilhaben zu können. Ich meine aber nicht nur die räumliche Barrierefreiheit, man sollte auch auf Menschen zugehen und sich ihnen gegenüber öffnen.“

Christoph Wendel in seinem elektrischen Rollstuhl.

Christoph Wendel benötigt rund um die Uhr Begleitung. Teilweise übernehmen diese auch seine Eltern, bei denen er wohnt.

Nach seinem Abitur begann Christoph Wendel sein Studium an der Universität Würzburg. Er erinnert sich, dass es nicht immer leicht war, Leute kennenzulernen. „Es fängt damit an, dass ich bei Vorlesungen vorne sitze, die anderen meist lieber in den hinteren Reihen“, erläutert er. Doch er sieht auch die Veränderungen der letzten Jahre: Gebäude, die nicht zugänglich waren, sind jetzt über eine Rampe auch für Rollstuhlfahrer gut erreichbar. „In einem Gebäude musste ich immer durch den Hintereingang fahren“, beschreibt Christoph Wendel. „Zum Eingang führte aber nur eine holprige Straße. Inzwischen wurde sie erneuert und ist schwellenlos befahrbar.“

Barrierefreiheit bedeutet für mich, mit einer Behinderung möglichst an allen Bereichen des Lebens teilhaben zu können.

Heute promoviert Christoph Wendel am Lehrstuhl für Astronomie über das Programm „PROMI – Promotion inklusive“. Er arbeitet bei seiner Forschung fast nur am Computer, den er vollständig mit einer Maus bedient. Damit er sie bewegen kann, legt jemand seine Hände darauf. Über eine Bildschirmtastatur steuert er dann die Buchstaben an. Christoph Wendel könnte den Computer auch über Sprache oder Augenbewegung bedienen. „Diese Funktionen nutze ich aber nicht – beim Programmieren und Anlegen physikalischer Formeln kann ich mit der Maus genauer arbeiten.“ Und was genau erforscht er? „Im Bereich der Astrophysik berechne ich die Strahlung, die aus bestimmten Galaxien abgegeben wird“, erläutert Christoph Wendel. „Dann vergleiche ich diese theoretischen Ergebnisse mit unseren Beobachtungen.“ 2021 wird er seine Promotion abschließen, will dann als Doktor der Physik weiterhin in der Forschung arbeiten.

Viele wissen nicht, wie sie mit Menschen mit Behinderung umgehen sollten. Es fehlt ihnen oft auch einfach die Erfahrung.

Privat nutzt er den Computer auch, aber nicht nur; er spielt lieber Brettspiele und liest viel. Zu seinem Freundeskreis gehören Menschen mit und ohne Behinderung. Außerdem spielt Christoph Wendel im Verein E-Hockey (englisch: Power Chair Hockey) – „es ist ähnlich wie Eishockey“. Der Schläger ist beim Spiel am Rollstuhl befestigt. Er steuert ihn durch die Bewegung und den Schwung seines Rollstuhls. Zum Abschied möchte ich noch wissen: Wie gibt man ihm denn die Hand? „Einfach vorsichtig meine Hand berühren“, sagt Christoph Wendel und lächelt. Gesagt, getan. Und dann geht’s auch schon weiter zur Sporthalle.

15:30 Uhr: Auf zur Sportstunde

In der Halle ist nicht so viel los wie erwartet. Der Grund: Es ist Klausurenzeit; die meisten Studierenden müssen sich vorbereiten oder sitzen gerade über ihren Prüfungen. Prof. Dr. Olaf Hoos, wissenschaftlicher Leiter des Sportzentrums, konnte dennoch ein paar Studentinnen und Studenten zusammentrommeln. Sie haben keine Behinderung, zeigen uns aber trotzdem, welche Möglichkeiten der Sport bietet und welche Angebote es für Studierende mit Behinderung gibt. Übrigens: Bei den meisten Mannschaftssportarten spielen Menschen mit und ohne Behinderung zusammen.

Porträtfoto: Olaf Hoos.

Olaf Hoos arbeitet seit 2012 an der Universität Würzburg. Seit 2017 ist er zusätzlich Beauftragter für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung.

Schon während seines Studiums in Marburg hatte Olaf Hoos viel Kontakt zu blinden Menschen. Er versucht, Behinderung nicht ausdrücklich zum Thema zu machen, sondern Menschen mit und ohne Behinderung durch gemeinsamen Sport zusammenzuführen. Dazu gehört auch, eng mit den Studierenden zusammenzuarbeiten. „Es geht bei Barrierefreiheit im weitgefassten Sinn nicht nur um direkte Problemlösungen“, betont Olaf Hoos. „Entscheidend ist, dass man sich gemeinsam auf den Weg macht.“

Barrierefreiheit braucht Kreativität

„Wir müssen aufmerksam machen – auf das, was alles möglich ist“, sagt Olaf Hoos. „Es muss gelingen, dass aus Mitleid Respekt wird.“ Aus diesem Grund hat die Uni Würzburg 2013 zusammen mit einer Sportstiftung das Projekt „No Limits“ des Universitätsbunds ins Leben gerufen. Seitdem findet alle zwei Jahre ein Sportfest statt. Hier gibt es verschiedene inklusive Sportarten von Blindenfußball bis Rollstuhlrugby sowie Mitmachaktionen. International bekannte Athletinnen und Athleten motivieren die Menschen zum Ausprobieren. Auch die Würzburger Profibasketballer spielen beim Rollstuhlbasketball mit – und staunen über die Leistungen der Menschen im Rollstuhl.

Es muss gelingen, dass aus Mitleid Respekt wird.

Miteinander, voneinander lernen

„Bewegung, Spiel und Sport bieten gute Möglichkeiten, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen“, ist Olaf Hoos überzeugt. Auch das baue Berührungsängste und Barrieren ab. Der Behinderten- und Inklusionssport ist fester Bestandteil der Ausbildung an der Uni Würzburg. „Für mehr Barrierefreiheit im Sport müssen Lehrkräfte kreativ werden – was Regeln, Material und Spielweisen betrifft“, erläutert Olaf Hoos. „So kann im besten Fall z. B. ein blinder Mensch mit einem Rollstuhlfahrer und einem Autisten zusammenspielen.“ Damit bekommen Menschen mit Behinderung auch mehr Bewegungsmöglichkeiten – „das ist wichtig für das alltägliche Leben und die Gesundheitsprognose.“ Was Olaf Hoos auch sieht: Barrierefreiheit ist kein Selbstläufer. „Aber es kommt darauf an, jede Form der Teilhabe für Menschen mit Behinderung zu unterstützen.“ Barrieren lassen sich im Sport auch durch Information abbauen – mit öffentlichen Vorträgen oder indem man Lehrkräfte von Schulen mit einbindet. „Alle lernen voneinander“, sagt Olaf Hoos. „Und das Thema Barrierefreiheit gehört einfach selbstverständlich dazu.“

Es geht bei Barrierefreiheit im weitgefassten Sinn nicht nur um direkte Problemlösungen. Entscheidend ist, dass man sich gemeinsam auf den Weg macht.

16:00 Uhr: Die Spiele beginnen – Bildergalerie

Handbike-Rennsport, Blindentischtennis, Rollstuhlfechten, Skifahren für Blinde oder Einbeinfußball – es gibt zahlreiche Sportarten für Menschen mit Behinderung. An der Uni Würzburg waren wir beim Rollstuhlbasketball und Blindenfußball dabei.

In einer Sporthalle: Ein junger Mann im Sportrollstuhl hebt einen Basketball auf.

Sportrollstühle ermöglichen dynamische Bewegung im Spiel. Sie sind stabil, kippsicher und äußerst wendig: Die Spielerinnen und Spieler können sich blitzschnell um 360 Grad drehen.

In einer Sporthalle: Mehrere Personen beim Rollstuhlbasketball.

Beim Rollstuhlbasketball gelten prinzipiell die gleichen Regeln wie beim Spiel der „Fußgänger“: Ein Team besteht aus fünf Personen – allerdings kann beim Anschieben der Ball teilweise auf den Schoß gelegt werden. Zudem spielen Männer und Frauen häufig zusammen.

In einer Sporthalle: Zwei Männer beim Rollstuhlbasketball.

„Die Spielerinnen und Spieler mit Behinderung sind mit dem Rollstuhl natürlich vertraut. Sie helfen uns Fußgängern, sich darin sicherer und besser zu bewegen. Dies schafft auch einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel. Es geht dann nicht mehr um das Thema Behinderung, sondern vor allem darum, gemeinsam Sport zu machen“, erklärt Olaf Hoos. „Der Rollstuhl ist hier schnell kein Hilfsmittel mehr, sondern einfach ein Sportgerät.“

Ein junger Mann im Rollstuhl fährt über eine Holzplatte mit unterschiedlich großen Löchern.

Im Sportzentrum der Uni werden auch häufig Mitmachstationen genutzt. So können Menschen ohne Behinderung selbst erleben, wie man sich in einem Rollstuhl fühlt. Mit einer Holzplatte wird z. B. Kopfsteinpflaster simuliert. „Du brauchst richtig viel Kraft und Geschicklichkeit, um darüber zu fahren“, erklärt Olaf Hoos.

Studierende mit einer Augenabdeckung spielen Fußball.

Blindenfußball ist eine echte Herausforderung: Neben der allgemeinen Orientierung hat auch der größte Teil unserer Gleichgewichtsfähigkeit mit dem Sehsinn zu tun. Das Spielfeld misst 20 mal 40 Meter; auch die Tore sind kleiner als bei einem gewöhnlichen Fußballspiel. Mit einer Dunkelbrille werden auch die sehenden Menschen „blind gemacht“. Eine Ausnahme: die Personen im Tor.

Nahaufnahme: Jemand spielt einen Fußball zwischen den Beinen hin und her.

Der Ball beim Blindenfußball ist etwas kleiner und deutlich schwerer als ein normaler Fußball. Der Grund: In seinem Inneren befinden sich Metallschellen, die bei Bewegungen ein rasselndes Geräusch verursachen. Außerdem ist es wichtig, dass der Ball nicht so hoch springt.

Spielsituation: Beim Blindenfußball schießt jemand den Ball aufs Tor.

Beim Blindenfußball besteht eine Mannschaft aus vier Spielerinnen bzw. Spielern und einem Torwart. Dieser gibt den Mitspielenden Orientierung, indem er ruft oder z. B. an die Torpfosten klopft.

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