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Freiheit!

München, März 2016. „Den Rollstuhlfahrer im dritten Stock ohne Lift, der seit Jahren nicht mehr aus dem Haus gekommen ist: den gibt es“, sagt Michael Schrauth. „Wo Barrierefreiheit fehlt, ist die soziale Isolation oft immens.“ Umso mehr freut sich der Projektleiter des Evangelischen Pflegedienstes München e. V. über „Wohnen im Viertel“. In den beteiligten Wohnanlagen leben Menschen mit und ohne Behinderung, junge und ältere Leute, Singles, Paare und Familien, barrierefrei miteinander. Karin K. wohnt seit 2015 in einer Mehrgenerationen-Wohnanlage im Münchner Stadtteil Gern. Ihr Fazit nach einem Jahr: „Das ist für mich wie ein Sechser im Lotto.“

Pinnwand mit Veranstaltungshinweisen.

Über Karin K.

Porträtfoto Karin K. Porträtfoto Karin K.

Karin K. ist durch eine Vorstufe der Nervenkrankheit ALS körperlich eingeschränkt. Seit 2015 lebt sie in einer Anlage des Projekts „Wohnen im Viertel“. Sie genießt die Barrierefreiheit in ihrer rollstuhlgerechten Wohnung und im barrierefreien Gebäude – und die vielfältigen Kontakte in der Nachbarschaft.

Meine Meinung

„Barrierefreiheit bedeutet für mich: Freiheit!“

Über Michael Schrauth

Porträtfoto: Michael Schrauth Porträtfoto: Michael Schrauth

Michael Schrauth arbeitet als Projektleiter beim Evangelischen Pflegedienst München e. V. Gemeinsam mit der städtischen Wohnungsbaugesellschaft GEWOFAG bietet der Pflegedienst an vier Standorten in München „Wohnen im Viertel" an.

Meine Meinung

„Barrierefreiheit ist auch ein Konzept gegen die soziale Isolation.“

„Wohnen im Viertel“: so funktioniert‘s

Immer mehr Menschen erreichen ein hohes Lebensalter. Auch wenn sie Unterstützung oder Pflege brauchen, möchten die meisten von ihnen lieber zu Hause leben als in einer Alten- und Pflegeeinrichtung – genauso wie viele jüngere Menschen mit Schwerbehinderung. Die GEWOFAG, Münchens größte Wohnungsbaugesellschaft, bietet erschwingliche Wohnungen und soziale Dienstleistungen an. In Zusammenarbeit mit dem Evangelischen Pflegedienst München e. V. setzt sie das Projekt „Wohnen im Viertel“ an vier Standorten in München um. Als Vorlage diente das „Bielefelder Modell“ aus den 1990er-Jahren.

Die Idee: Menschen aller Generationen leben Tür an Tür in barrierefreien bzw. rollstuhlgerechten Wohnungen. Um Menschen mit Pflegebedarf kümmert sich rund um die Uhr ein ambulanter Pflegedienst, der einen Stützpunkt im Haus hat. So können bei Bedarf auch andere Menschen im Quartier sein Angebot nutzen. „Dafür müssen sie keine Betreuungspauschale zahlen, sondern nur die Leistungen, die sie tatsächlich in Anspruch nehmen“, erklärt Projektleiter Michael Schrauth.

Aha!

Was ist der Unterschied zwischen „barrierefrei“ und „rollstuhlgerecht“? Eine barrierefreie Wohnung ist so gebaut und ausgestattet, dass man sich z. B. mit einem Rollator ungehindert und möglichst sicher bewegen kann. Die Böden sind rutschhemmend und fest verlegt. Die Türen sind mindestens 80 Zentimeter breit. Türstöcke und Dusche haben keine Schwelle. Eine rollstuhlgerechte Wohnung ist auch für das Befahren mit einem Rollstuhl und z. B. den Einbau von Liftern oder anderen Hilfsmitteln ausgelegt. Deshalb sind z. B. die Türen noch breiter – mindestens 90 Zentimeter. Die Bodenbeläge sind rollstuhlgeeignet; die Kücheneinrichtung ist mit dem Rollstuhl unterfahrbar. Die Grundlagen für das barrierefreie/rollstuhlgerechte Bauen liefert die DIN-Norm 18040.

Wohncafé gegen Barrieren

Karin K. wartet schon im Wohncafé des Mehrgenerationenhauses in Gern. Seit April 2015 lebt die Münchnerin in einer der rollstuhlgerechten Wohnungen. Sie hat eine Vorstufe der Nervenkrankheit ALS. Wegen der Muskellähmung kann Frau K. nur wenige Schritte mit dem Rollator zurücklegen. Sonst ist sie mit einem Elektrorollstuhl mobil. Um ihre Wohnung hatte sie sich schon ein Jahr vor Bauabschluss beworben. Als die Zusage kam, war Karin K. überglücklich. Daran hat sich nichts geändert. „Es ist perfekt hier“, beschreibt sie lächelnd. „Ich kann allein überall hin und jederzeit raus. Das ist für mich Freiheit und Unabhängigkeit. Ich bin sehr kommunikativ; im Wohncafé habe ich schon viele Bekanntschaften gemacht. Und wenn ich mal meine Ruhe haben will, gehe ich hoch in meine Wohnung.“

Bauchtanz im Rollstuhl? Na logisch.

Tatsächlich sind das Wohncafé und das angrenzende Nachbarschaftscafé ebenso entspannte wie lebendige Treffpunkte. Eine Gruppe älterer Menschen findet sich an einem Tisch zum Kartenspiel, daneben räkelt sich geduldig ein Hund. Ein Bub kommt herein, um ein Paket abzuholen. Bald gibt es frisch gebackenen Kuchen. Freizeitangebote bringen die Menschen zusammen, ob Yoga, Bauchtanz für Alt und Jung, Elternfrühstück oder ein Nähkurs für Teens. „Viele der Veranstaltungen werden von uns moderiert“, schildert Michael Schrauth. „Und viele weitere laufen inzwischen auf Initiative der Hausbewohner. Die Menschen nehmen vieles selbst in die Hand und man kümmert sich auch umeinander. Die ältere Dame macht vielleicht am Nachmittag mit einem Kind Hausaufgaben; dafür bringt ihr die Mutter etwas aus dem Supermarkt mit.“ Alle können mitmachen. Bauchtanz im Rollstuhl: Na logisch. Wer Scheu hat, auf andere zuzugehen, tut sich viel leichter beim gemeinsamen Kreativsein, Sporteln, Lachen. So trägt das Wohncafé auch zum Abbau von sozialen Barrieren bei.

Barrierefreiheit muss man nicht sehen. Sondern spüren!

Die Wohnanlage ist vor allem ein Angebot für ältere Menschen und für Familien. Ob eine alte Dame mit Rollator oder junge Eltern mit Kinderwagen: Barrierefreiheit macht allen das Leben leichter. Die baulichen und technischen Maßnahmen im Haus sind unauffällig, aber entscheidend. Elektrische Türöffner, schwellenlose Übergänge, niedrig angebrachte Bedientasten, große, gut lesbare Beschriftungen sorgen für Orientierung und sicheres Vorankommen. Zwei Aufzüge im Haus stellen sicher, dass Menschen mit Gehhilfe oder Kinderwagen auch dann ihre Wohnung verlassen können, wenn ein Aufzug mal ausfällt. In Frau K.s Wohnung gehen Wohnraum und Küche ineinander über. Durch einen breiten, rollstuhlgerechten Flur erreicht man, vorbei am großen Bad, das Schlafzimmer. Der schwellenlose Übergang zum Balkon lädt dazu ein, jedes Stündchen in der Sonne zu genießen.

Wohnhaus mit Laubengängen, die zu den Wohnungen führen.

Barrierefreies „Wohnen im Viertel“: Das Mehrgenerationenhaus in München-Gern unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von anderen Wohnhäusern. Doch wer reinkommt, stellt fest: Hier entwickeln junge und ältere Leute, Menschen mit und ohne Behinderung, Singles, Paare und Familien eine echte Gemeinschaft – ohne Barrieren.

Karin K. in einem Sessel in ihrer Wohnung.

Karin K. in ihrem Lieblingssessel. Durchs Fenster sieht sie auf den Laubengang. Die Nachbarn winken oder bleiben auch mal auf ein Schwätzchen stehen.

Blick in ein rollstuhlgerechtes Badezimmer.

Im großen Bad hat man auch mit Rollstuhl viel Bewegungsfreiheit. Das Waschbecken ist unterfahrbar, auf beiden Seiten der Toilette sind robuste Griffe montiert. Eine Rückenlehne gibt Stabilität.

Rollstuhlgerechtes Badezimmer: Blick in die Dusche mit Pflegestuhl.

Der Zugang zur Dusche ist stufen- und schwellenlos. Menschen mit Gehbehinderung oder z. B. einer Störung des Gleichgewichtssinns sitzen beim Duschen sicher auf einem Pflegestuhl.

Karin K. steuert mit dem Rollator aus der Wohnung auf den Balkon zu.

Der Übergang von der Wohnung auf dem Balkon gilt als schwellenlos. Die wenige Millimeter hohe Leiste behindert Frau K. weder mit dem Rollator noch mit dem Rollstuhl.

Bilderrahmen mit einer Textkarte.

„Hinfallen, Krone richten, weitergehen.“ – Dieses Motto hat Frau K. eingerahmt.

Pinnwand mit Veranstaltungshinweisen.

Beratungsangebote, Fitnesskurse, Tanz, Musik und vieles mehr bringen die Bewohnerinnen und Bewohner im Mehrgenerationenhaus zusammen. Zum Konzept „Wohnen im Viertel“ gehört das Miteinander in der Freizeit genauso wie gegenseitige Unterstützung. Dabei gilt immer: Mitmachen ist freiwillig.

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Herzlich willkommen

Besuch ist beim „Wohnen im Viertel“ herzlich willkommen. Dies gilt nicht nur für die Menschen aus der Nachbarschaft, sondern auch für Gäste der Mieterinnen und Mieter. Sie können preisgünstig in einer Gästewohnung des Hauses übernachten. Außerdem gibt es eine Pflegewohnung auf Zeit. Hier können Menschen vorübergehend einziehen, um z. B. die Zeit zwischen einem Aufenthalt im Krankenhaus und der Reha zu überbrücken. Versorgt werden sie vom Pflegedienst, der einen Stützpunkt im Haus hat.

In dieser Atmosphäre aus Selbstbestimmung und Miteinander, aus Fürsorge und Freiraum fühlt sich Karin K. wohl. „Hier geht keiner verloren.“

Hier geht keiner verloren.

Kontakte & Adressen

„Wohnen im Viertel“ bieten die GEWOFAG und der Evangelische Pflegedienst derzeit an vier Standorten in München an. Infos über das Projekt und Kontaktadressen finden Sie hier:

„Wohnen im Viertel“: Infos der GEWOFAG

„Wohnen im Viertel“: Infos des Evangelischen Pflegedienstes

Das Projekt „Wohnen im Viertel – Mehrgenerationenwohnen am Reinmarplatz“ wurde auf dem Gelände des einstigen Wilhelmine-Lübke-Altenheims realisiert. Heute gehört das Grundstück der städtischen Stiftung „Altenwohnheim Wilhelmine-Lübke-Haus", die es in Erbpacht WOGENO und GEWOFAG vermietet. Aus den Einnahmen wird ein Begegnungszentrum als soziale Mitte des Projektes finanziert. Schwerpunkt sind Wohnangebote für ältere Menschen und für Familien.

Mehr erfahren: Mehrgenerationenwohnen am Reinmarplatz