Anja Prestel

Unterwegs mit Irmgard Badura

München, September 2015

Das Thema Barrierefreiheit bewegt Irmgard Badura beruflich und privat. Als Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung rüttelt sie von Amts wegen an Barrieren in Räumen und Köpfen. Ganz persönlich berührt sie das Thema, weil sie wegen einer Netzhaut-Erkrankung stark sehbehindert ist. Auf ihrem täglichen Arbeitsweg stößt sie auf vielerlei Barrieren – aber auch auf immer mehr gelungene barrierefreie Lösungen.

Über Irmgard Badura

Von 2009 bis 2018 war Irmgard Badura die Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung. Irmgard Badura hat von Geburt an eine degenerative Netzhaut-Erkrankung. Heute hat sie eine Sehkraft von zwei Prozent. Ihr Gesichtsfeld ist, wie sie sagt, „auf ein Schlüsselloch“ verengt.

Anja Prestel

Barrierefreiheit bedeutet für mich zweierlei. Zum einen Gleichberechtigung: Persönliche Merkmale machen keinen Unterschied mehr. Und zum anderen: Jeder Mensch kann sein Leben individuell gestalten. Beruf, Familiengründung, Engagement in Gesellschaft und Politik, Hobbys, Reisen …

Wenn die Umgebung nicht barrierefrei gestaltet werden kann, dann hilft eben eine Assistenz. Wir sind Menschen – miteinander das Leben zu gestalten, gehört dazu.

Irmgard Badura

Kommen Sie mit!

Anja Prestel

09:39 Uhr

„Ich lebe in Nürnberg. Wenn ich keine Termine auswärts habe, fahre ich morgens mit dem Zug nach München, in mein Büro im Bayerischen Sozialministerium.“

Anja Prestel

09:39 Uhr

„Am Bahnsteig am Münchner Hauptbahnhof ertaste ich mit dem Langstock diese gerillten Bodenplatten …“

Anja Prestel

09:39 Uhr

„… Korrekt heißt diese Rillenspur: taktiles Bodenleitsystem. Hier führt es, mit einem Sicherheitsabstand zur Kante, den gesamten Bahnsteig entlang und hilft blinden und sehbehinderten Menschen bei der Orientierung.“

Anja Prestel

09:41 Uhr

„Zwischen den Bahnsteigen und dem Abgang zum Zwischengeschoss gibt es noch kein Leitsystem. Ich kann starke Hell-Dunkel-Kontraste erkennen. Wenn es draußen richtig hell ist, richte ich mich nach dem Licht, das durch das große Fenster über der Treppe zum Zwischengeschoss fällt. Scheint kein Tageslicht mehr hindurch, fehlt mir diese `Zielmarke´ komplett.“

Anja Prestel

09:44 Uhr

„Ab hier wird es einfacher. Im Zuge der Renovierung wurde das Zwischengeschoss im Münchner Hauptbahnhof richtig gut barrierefrei gestaltet …“

Anja Prestel

09:45 Uhr

„Die jeweils erste und letzte Treppenstufe haben eine gut sichtbare und tastbare Markierung.“

Anja Prestel

09:51 Uhr

„Das gesamte Zwischengeschoss durchzieht ein Leitsystem. Die gerillten Bodenplatten zeigen mir, dass der Weg geradeaus führt. Unterwegs orientiere ich mich auch an Geräuschen. Eben sind wir an einem Bäcker vorbeigekommen, ich habe das Rascheln der Brötchentüten beim Einpacken gehört. Ein kalter Luftzug ist ein Signal, dass ich mich einem Ausgang nähere.“

Anja Prestel

09:51 Uhr

„Wenn die Rillen in eine Bodenplatte mit Noppen münden, dann weiß ich: Achtung, hier ist z. B. eine Abzweigung, ein Hindernis oder, im Freien, auch eine Bus- oder Trambahn-Haltestelle. Diese genoppten Platten heißen deshalb Aufmerksamkeitsfelder.“

Anja Prestel

10:15 Uhr

„Mein Team und ich haben unsere Büros im Bayerischen Sozialministerium. Am Vordereingang wacht ein Pförtner, hier, am hinteren Eingang, eine automatische Drehtür. Man muss seine Zugangskarte vor dieses Kästchen halten … Gar nicht so einfach, das zu finden. Ah, jetzt ist die Drehtür entriegelt.“

Anja Prestel

10:15 Uhr

„Hören Sie das Brummen? Auf dem Weg durchs Erdgeschoss des Sozialministeriums orientiere ich mich am Geräusch des Getränke-Automaten. Genau hier zweigt der Gang zu meinem Büro ab.“

Anja Prestel

10:15 Uhr

„Türschilder sind in Druckschrift und in tastbarer Punktschrift beschriftet.“

Anja Prestel

10:15 Uhr

„In den langen Fluren des Gebäudes lege ich eine Hand auf die Wand. So geht’s am schnellsten.“

Anja Prestel

10:20 Uhr

„Willkommen in meinem Büro! Die Bilder an den Wänden sind eher für meine Gäste. Meine Nichten haben mir diese beiden Rahmen mit ihren Handabdrücken geschenkt.“

Anja Prestel

10:20 Uhr

„Bei Besprechungen mache ich mir Notizen mit meiner Braillezeile. Ich kann sie auch an den Computer anschließen. Dann überträgt sie z. B. E-Mails, Dokumente und die Inhalte von Websites in tastbare Braillezeichen. Apropos: Jetzt wird gearbeitet. Wir sehen uns heute Abend wieder!“

Anja Prestel

18:00 Uhr

„Auch nach einem intensiven Arbeitstag kann ich nicht entspannt zur Bushaltestelle schlendern. Im Gegenteil, jetzt ist noch einmal volle Konzentration gefragt. Unaufmerksamkeit kann ich mir nicht leisten, wenn ich alleine unterwegs bin.“

Anja Prestel

18:05 Uhr

„Ist Ihnen aufgefallen, dass immer mehr Ampeln dieses Tock-Tock-Geräusch von sich geben? Es weist blinden und sehbehinderten Menschen den Weg zur Ampel. Der Straßenverkehr übertönt leider oft dieses akustische Signal. Noch lautere Signale stören die Anwohner … Das Beispiel zeigt: Barrierefreiheit bedeutet, immer wieder Kompromisse auszuhandeln.“

Anja Prestel

18:05 Uhr

„Fassen Sie mal hin, wenn Sie das nächste Mal an einer Blindenampel stehen: An der Unterseite des gelben Kästchens können Sie einen Pfeil ertasten. Er zeigt blinden und sehbehinderten Menschen die Gehrichtung an. Drücken Sie die Pfeiltaste und lassen Sie die Hand darauf ruhen. Sobald die Ampel auf Grün für Fußgänger schaltet, spüren Sie ein Vibrieren; teilweise ertönt auch ein Signalton.“

Anja Prestel

18:15 Uhr

„Hier sehen Sie ein häufiges Problem: Der Radweg ist nicht deutlich – z. B. durch eine ertastbare Markierung oder einen Bordstein – vom Gehweg abgesetzt. So kommt es leicht zu Zusammenstößen von Radlern und blinden oder sehbehinderten Menschen. Eine barrierefreie Lösung wäre z. B. eine Markierung mit Noppenplatten.“

Anja Prestel

18:20 Uhr

„Oft bieten mir Menschen z. B. in der Straßenbahn einen Sitzplatz an. Das ist sehr nett, aber gar nicht nötig. Ich hab’s ja nicht in den Beinen.“

Anja Prestel

18:30 Uhr

„Noch eine typische Barriere: `Wild´ geparkte Fahrräder. Kaum jemand denkt beim Fahrrad-Abstellen daran, dass ein Fußgänger das Rad vielleicht nicht sehen könnte. Vielleicht denken ja künftig mehr Leute mit: das wäre prima.“

Anja Prestel

18:30 Uhr

„Mein Langstock hat eine Keramik-Spitze. Sie macht ein ziemlich lautes Geräusch, wenn sie auf den Boden trifft. Das hilft mir bei der Orientierung. Und Passanten hören das Geräusch und werden auf mich aufmerksam.“

Anja Prestel

18:30 Uhr

„So, jetzt habe ich das Bahnhofs-Zwischengeschoss fast durchquert. Die Noppenplatte signalisiert mir, dass die lange Strecke geradeaus hier endet und gleich die Treppe in die Bahnhofshalle beginnt.“

Anja Prestel

18:35 Uhr

„Es gibt so viele leckere Angebote in den Bahnhöfen ... Aber wenn ich Appetit auf einen Snack für den Heimweg habe, müsste ich andere Menschen ansprechen und sie bitten, mich zu einem der Shops zu begleiten. Vorher müsste ich ihnen schildern, worauf ich ungefähr Lust habe, damit sie mich zum passenden Stand führen. Dort wiederum sollte ich schon ziemlich genau beschreiben, was ich essen möchte, damit die Verkäuferin mir nicht das gesamte Sortiment aufzählen muss. Da verzichte ich oft lieber.“

Anja Prestel

18:35 Uhr

„Ganz heikel ist es, wenn blinde oder sehbehinderte Menschen an einem Ort, der ihnen nicht vertraut ist, zur Toilette müssen. Stellen Sie sich vor, Sie müssten einen wildfremden Menschen z. B. in einem Bahnhof anhalten und bitten, Sie zur Toilette zu begleiten. Puh …!“

Anja Prestel

18:35 Uhr

„Kleine Helfer habe ich immer dabei. Schauen Sie mal: Wenn ich einen Geldschein um diese Schablone falte, kann ich ertasten, welchen Wert er hat. Ähnlich handlich ist meine Unterschriftenschablone. Sie hilft mir, meine Unterschrift sauber in Schwarzschrift zu setzen. Schwarzschrift? Das ist die Schrift, die sehende Menschen verwenden – im Gegensatz zur tastbaren Brailleschrift für blinde Menschen.“

Anja Prestel

18:50 Uhr

„Jetzt freue ich mich auf eine entspannte Zugfahrt. Und natürlich auf ein barrierefreies Bayern!“

Unterwegs mit dem City-Reporter

Videotipp: Irmgard Baduras malerische Heimatstadt Nürnberg verfügt über ein bedeutsames historisches Erbe. Mit City-Reporter Dergin Tokmak alias Stix, einem Akrobaten mit Behinderung, der atemberaubend mit seinen Stöcken (englisch: sticks) tanzen kann, besucht sie im Sommer 2021 geschichtsträchtige Orte wie das Fembo- und das Albrecht-Dürer-Haus, den Henkersteg, den Saal der Nürnberger Prozesse und die Straße der Menschenrechte. Eine informative, amüsante, auch nachdenkliche, in jedem Fall aber sportliche Tour! Begleiten Sie die beiden!

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