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Besuch: Einfach reinkommen. Entspannt rausschauen.
München, Januar 2016. Das nette Café, die Nachbarschaftskneipe, das Wirtshaus, die Bar: Hier trifft man sich, plaudert, diskutiert, feiert, flirtet, erfindet die Welt neu oder kehrt ihr für ein paar Stunden gemeinsam den Rücken. Lokale sind nicht nur gut gegen Hunger und Durst, sondern auch gegen Einsamkeit. Im Münchner Restaurant „Ella“ am Lenbachhaus ist es am späten Mittag brechend voll. Und doch ist Platz für alle: ältere Menschen, Familien mit kleinen Kindern, Menschen mit Behinderung. Bayerns Sozialstaatssekretär Johannes Hintersberger hat das Restaurant besucht und sich mit Gastronomin Melanie Muth über Barrierefreiheit, Werte und die Grenzen der Toleranz ausgetauscht.
Inhaltsverzeichnis
Über Johannes Hintersberger
Johannes Hintersberger war bis März 2018 Staatssekretär im Bayerischen Sozialministerium.
Meine Meinung
„Was mir ein Graus ist: wenn Barrierefreiheit aufgesetzt wirkt. Allein schon der Begriff ist sperrig. Was Barrierefreiheit wirklich ausmacht, sind für mich nicht DIN-Normen – die wir natürlich brauchen –, sondern der Umgang zwischen Menschen, ein normales, selbstverständliches Miteinander. Dazu gehört auch, sich gegenseitig zu helfen.“
Über Melanie Muth
Stararchitekt Sir Norman Foster gestaltete mit dem Münchner Lenbachhaus auch das angeschlossene Restaurant. 2013 eröffnete das „Ella“; Melanie Muth war bis Anfang 2016 Betriebsleiterin.
Meine Meinung
„Barrierefrei zu handeln – das muss von oben kommen, das muss ich als Vorgesetzte vorleben. Dann wird es irgendwann selbstverständlich.“
Ein Restaurant für alle
Was nicht passt, wird passend gemacht
2013 stellte der Club Behinderter und ihrer Freunde e. V. München und Region das „Ella“ als „Lokal des Monats“ auf seiner Website vor. Das Porträt, das vor allem die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrern im Blick hat, ist auch für Fußgänger interessant. Beschreibt der Beitrag doch Details, auf die Menschen ohne Behinderung kaum achten würden: die nächstgelegenen Behindertenparkplätze. Die Länge, Breite und Steigung der Rampe, die von der Straße zum Museum und Lokal führt. Die Höhe der Türgriffe, die Größe des Windfangs, die Dimensionen der Tische, die exakten Maße und die Ausstattung der Sanitärräume. So können betroffene Menschen genau beurteilen: Bewältige ich die Rampe ohne fremde Hilfe, kann ich selbst die Türen öffnen, passt mein Rollstuhl an den Tisch, kurz: Muss ich draußen bleiben, kann ich hier essen, muss dabei aber zig Probleme lösen – oder kann ich, wie alle anderen auch, einfach und entspannt eine nette Zeit genießen?
Eine Frage der Werte
Die Türen. Die Türen sind im „Ella“ ein Problem. So schwer, dass fast alle Gäste erst stutzen, dann viel Körperkraft einsetzen, dabei den Kopf schütteln. Mächtiges, dickes Panzerglas: Das Restaurant ist schließlich Teil des Museumsbaus mit seiner kostbaren Sammlung. Automatische Türöffner? Nicht einfach bei Ensembles weltberühmter Architekten … Man arbeite hartnäckig daran, sagt Melanie Muth. Vorerst habe das Team die Türen im Blick und springe hinzu, wenn jemand Hilfe brauche. Und: Wenn im Lenbachhaus keine Sonderausstellung läuft, gibt es einen barrierefreien Zugang vom Museum aus.
Alles andere: passt soweit. Und was nicht passt, wird passend gemacht. „Vor einiger Zeit kam eine Gruppe, darunter ein Gast in halb liegender Position im Rollstuhl. So ein Gefährt braucht natürlich Platz. Wir haben einige Gäste gebeten, sich umzusetzen. Das haben sie gerne gemacht und schon hat alles geklappt“, berichtet Melanie Muth. Die Regel ist das nicht. Fast alle Menschen mit Behinderung sind schon auf offene Ablehnung gestoßen, auf Pöbeleien, auf Hotelgäste, die Preisnachlass verlangen, weil auch Menschen mit Behinderung den Speisesaal nutzen. Wie geht Melanie Muth damit um? „Wir hatten eine solche Situation zum Glück noch nicht. Aber wenn es so wäre: Als Gastronom hat man Werte, für die man steht. Dazu gehört für mich, dass Gäste mit Behinderung willkommen sind. Wenn ein anderer Gast das nicht gut findet, dann ist er bei uns nicht am richtigen Ort.“
Gäste mit Behinderung sind bei uns willkommen. Wenn ein anderer Gast das nicht gut findet, dann ist er bei uns nicht am richtigen Ort.
Barrierefreies Treffen am Lounge-Tisch: „Ella“-Betriebsleiterin Melanie Muth im Gespräch mit Sozialstaatssekretär Johannes Hintersberger.
Barrierefreiheit beginnt im Kopf
Seit Juli 2015 ist Johannes Hintersberger Sozialstaatssekretär. Barrierefreiheit ist von Beginn an sein Thema; u. a. stellte er das Gütesiegel „Reisen für Alle“ für barrierefreie Tourismusangebote vor. Ob im Sitzungssaal, beim Arztbesuch oder im Restaurant: Betrachtet er inzwischen seine Umwelt mit anderen Augen? „Auf jeden Fall. Durch meine neue Tätigkeit bin ich deutlich sensibilisiert. Ich schaue genauer hin. Zunächst fallen natürlich bauliche Gegebenheiten auf: Stufen. Lange, komplizierte Umwege vom Aufzug zur barrierefreien Toilette. Vieles andere merkt man erst, wenn man länger z. B. in einem Lokal ist. Dann spüre ich, wie die Menschen dort mit dem Thema umgehen. Barrierefreiheit beginnt im Kopf! Das Beratungsangebot der Bayerischen Architektenkammer wurde ja deutlich erweitert, vom Thema Bauen auf alle anderen Lebensbereiche. So wollen wir an die Verantwortlichen herankommen, ob in der Gastronomie, in Bildungseinrichtungen oder in Kommunen. Wir wollen vermitteln, dass Barrierefreiheit weit mehr ist als Architektur. Diesen ganz normalen Umgang miteinander, wie hier im Restaurant, finde ich großartig. Natürlich zielt Barrierefreiheit darauf, dass Menschen mit Behinderung überall selbstständig, also ohne fremde Hilfe, teilhaben können. Doch auf dem Weg dorthin ist es weit wertvoller, wenn das Thema in den Köpfen ankommt, als dass jede Norm erfüllt wird.“
Natürlich zielt Barrierefreiheit darauf, dass Menschen mit Behinderung überall selbstständig, also ohne fremde Hilfe, teilhaben können. Doch auf dem Weg dorthin ist es weit wertvoller, wenn das Thema in den Köpfen ankommt, als dass jede Norm erfüllt wird.
Wie bewegt man etwas in Köpfen? „Barrierefrei zu handeln – das muss von oben kommen, das muss ich als Vorgesetzte vorleben. Dann wird es irgendwann selbstverständlich“, meint Melanie Muth. Manchmal erstrecke sich dieses Vormachen, Vorleben auch über das Restaurant hinaus. „Ich habe einmal für eine ältere Dame mit Rollator ein Taxi bestellt. Als ich sie nach draußen begleitet habe, sah ich, dass das Taxi unterhalb der Treppe links vor unserem Restaurant wartete. Ich bat den Fahrer, von der rechten Seite anzufahren, wo keine Stufen sind. Er weigerte sich: Auftrag sei Auftrag und er stehe ja schließlich wie gewünscht vor dem Lokal. Dabei war völlig klar, dass die Dame die Treppe nicht überwinden konnte. Trotzdem brauchte es eine Weile, bis er nachgab …“
Das Stirnrunzeln auf Hintersbergers Gesicht gilt dem Taxifahrer, sein Nicken Melanie Muth. „Das finde ich sympathisch: einen Gast nicht sich selbst zu überlassen, sobald er die Rechnung bezahlt hat. Im Idealfall merkt es sich auch der Taxifahrer … Dann entwickelt sich auch bei ihm etwas!“ Wer von Dienstleistern schlecht behandelt werde, ist Hintersberger überzeugt, verzichte künftig auf den Service. Er hakt nach: „Ist Barrierefreiheit für Sie auch ein Wettbewerbsaspekt?“
„Ja, das zeichnet ein Serviceteam insgesamt aus“, stimmt Muth zu. Und es wird immer wichtiger. Ältere Menschen sind schließlich auch gute Gäste. Für uns sind sie nicht wegzudenken.“ Die Wertschätzung, die Gäste erlebten, komme zurück: „Bei uns bedankt sich jeder Gast, dem wir helfen. Das spornt natürlich an.“
Miteinander reden ist Gold
„Welche Rolle spielen für Sie soziale Netzwerke?“, möchte Johannes Hintersberger zuletzt wissen. Melanie Muth wiegt den Kopf. „Ich finde es besser, wenn Gäste uns ansprechen, wenn sie nicht zufrieden sind. Einmal las ich in einer Restaurantbewertung, dass unsere Toiletten nicht barrierefrei sind. Wir haben aber zwei Toiletten. Die eine ist nur über eine Treppe zu erreichen, die andere, barrierefreie, ebenerdig. Hätte der Gast uns gefragt, hätte er bei uns einen schönen Nachmittag verbringen können.“
Barrierefrei zu handeln – das muss von oben kommen, das muss ich als Vorgesetzte vorleben.
Genuss mit Aussicht: Stammgäste im Restaurant „Ella“.
„Nett hier“, findet offensichtlich die kleine „Ella“-Besucherin …
… und zeigt, dass Lokale auch prima Orte für den Austausch zwischen den Generationen sind.
Johannes Hintersberger bricht auf, auch Melanie Muth kehrt zurück an den Schreibtisch. Die Gäste im Restaurant sind inzwischen bei Kaffee und Kuchen angekommen. „Wo hat man sowas schon?“, lächeln zwei ältere Herrschaften mit Logenplatz an der riesigen Fensterfront, die den Blick freigibt auf die Propyläen und den Königsplatz, „Gut essen und diesen Ausblick genießen.“
Ausgezeichnetes Miteinander: Sozialstaatssekretär Johannes Hintersberger übergibt das Signet „Bayern barrierefrei“ an Melanie Muth vom Restaurant „Ella“.