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Besuch: Ägyptisches Museum München
München, Februar 2016. „Wenn man neu plant, kann man ganz anders rangehen“, sagt Dr. Sylvia Schoske. Die Direktorin des Ägyptischen Museums in München konnte ihr 2013 neu eröffnetes Haus umfassend barrierefrei planen. Bauliche und technische Maßnahmen sind dabei nur ein Teilbereich. Sylvia Schoske und ihr Team um Museumspädagogin Roxane Bicker dachten und denken ständig darüber nach, was es bedeutet, „ein Museum für alle“ zu gestalten. Dabei haben sie auch Zielgruppen im Blick, die oft übersehen werden – z. B. Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Über Dr. Sylvia Schoske
Dr. Sylvia Schoske hat Ägyptologie studiert. Nach ihrer Promotion arbeitete sie in der Staatlichen Sammlung Ägyptischer Kunst in München. Die Ägyptologin leitete das Museum von 1989 bis Januar 2021. Sie entwickelte die Sammlung nicht nur inhaltlich weiter, sondern prägte auch die äußere Form mit: den spektakulären Neubau im Münchner Kunstareal.
Meine Meinung
„Barrierefreiheit heißt für uns: Wir wollen ein Museum für alle. Wir haben Barrierefreiheit nicht nur im architektonischen Bereich bedacht, sondern auch im Service und in der inhaltlichen Erschließung der Sammlung – jeweils mit Blick auf ganz unterschiedliche Zielgruppen.“
Über Roxane Bicker
Roxane Bicker ist Ägyptologin und Museumspädagogin. Im Ägyptischen Museum ist sie u. a. verantwortlich für Programme und Führungen für Schulklassen, ältere Menschen, Familien und Menschen mit Behinderung. Gerade lernt Roxane Bicker die Gebärdensprache und freut sich über manche Ähnlichkeit mit altägyptischen Schriftzeichen.
Meine Meinung
„Barrierefreiheit heißt nicht, dass wir Spezialthemen z. B. für Menschen mit Behinderung anbieten. Alles kann von allen Gruppen oder Einzelpersonen gebucht werden. Ob Menschen mit Behinderung, Kita-Kinder oder Seniorengruppe: Wir passen das jeweilige Programm oder die Führung entsprechend an.“
„Wir wollen ein Museum für alle“
Erklären kann Sylvia Schoske Barrierefreiheit ganz einfach: „Ein Angebot ist barrierefrei, wenn es auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung ausgerichtet ist – und dabei interessant für alle Menschen.“ Ihr Museumsgebäude konsequent inklusiv und barrierefrei umzusetzen, war schon deutlich schwieriger. Sie musste viel Überzeugungsarbeit leisten und manchen Kampf ausfechten. „Erfreulicherweise“, kommentiert die Direktorin des Ägyptischen Museums in München trocken, „ kommen heute die Architekten zu uns, um von uns zu lernen.“
Bei einem Neubau kann man Barrierefreiheit ganz anders denken und planen als bei Umbauten: umfassend, ästhetisch ansprechend, aus einem Guss. 2013 öffnete das Ägyptische Museum seine – barrierefreien – Pforten. Gestaltet ist es aus Sichtbeton. Dieses Material, kraftvoll, archaisch und elegant zurückhaltend zugleich, schafft eine feine Bühne für die Präsentation der Werke. Die Ausstellungsräume, unterirdisch gelegen, öffnen sich zu lichten, großzügigen Sälen, verengen sich zu geheimnisvollen Kammern, dem Alltag weit entrückt. Wechselnde Sichtachsen verlocken dazu, immer tiefer ins Alte Ägypten vorzudringen. Heute genießen die Sammlung wie das Bauwerk internationales Ansehen.
Oben, hinter der Glasfassade, die Filmhochschule; unten, in wuchtigem Sichtbeton, das Ägyptische Museum: Gegenwart und Antike treffen einander in einem vielbeachteten Baukörper.
Beton, Pfeiler und das Spiel mit Licht und Schatten prägen die Stimmung in den Ausstellungsräumen.
Berühren erlaubt!
Natürlich gibt es einen barrierefreien Zugang für Menschen mit Rollstuhl oder Gehbehinderung. Natürlich ist der Info- und Kassenbereich rollstuhlgerecht, ebenso wie Präsentationstische und Medienstationen in den Ausstellungsräumen. An der Kasse werden neben Rollstühlen, Gehhilfen und tragbaren Klappstühlen auch Buggys und Tragetücher für Babys verliehen. Für sperrige Kinderwägen gibt es einen eigenen Parkplatz. Im Auditorium und an der Kasse sorgen induktive Höranlagen dafür, dass Menschen mit Hörgerät oder Cochlea-Implantat problemlos zuhören und sich austauschen können.
Den Info- und Kassenbereich muss man nicht lange suchen. Er liegt direkt gegenüber dem Haupteingang. Eine rollstuhlgerechte Theke sichert den entspannten Dialog auf Augenhöhe.
Für Besucherinnen und Besucher mit Hörgerät oder Cochlea-Implantat ist die Infotheke mit einer induktiven Höranlage ausgestattet.
Viele Texte in Druckschrift werden auch in Punktschrift für blinde Menschen angeboten. Eine erhabene, mit dem Langstock ertastbare Bodenlinie führt durch die Ausstellung – z. B. bis in den Raum „Ägypten erfassen“. Hier können blinde und sehbehinderte Menschen Nachbildungen antiker Skulpturen, Reliefs und Proben von ägyptischen Gesteinen mit den Händen erforschen. Auch die Herstellung einer Skulptur können sie nachvollziehen. An einer Reihe von Nachbildungen sind die einzelnen Arbeitsschritte ertastbar, vom rechteckigen Steinblock über die grob behauene Form bis zur vollendeten Frauenfigur. Das Angebot ist auch für sehende Besucherinnen und Besucher jeden Alters reizvoll. Worüber das Auge oft nur hinwegschweift, kann der Tastsinn tiefer erfassen und begreifen. Die Fingerspitzen dringen von der Oberfläche bis ins Detail vor, die Handflächen erkunden Materialien und Strukturen. Und es ist nicht nur für Kinder einfach toll, wenn’s im Museum mal erlaubt ist, Figuren anzufassen.
Die Multimedia-Guides können Besucherinnen und Besucher an der Kasse ausleihen. Um die Erläuterung zu einem Ausstellungsstück zu aktivieren, legt man den Guide einfach in eine Station neben dem Ausstellungsstück.
Ein Bodenleitsystem führt durch die gesamte Ausstellung. Blinde Menschen können die Messingleiste mit ihrem Langstock ertasten. Kleine Pfeile geben die Richtung des Rundgangs an.
Hier ist Anfassen erwünscht: Im Raum „Ägypten erfassen“ ist der Name Programm.
Die Besucherinnen und Besucher dürfen die Skulpturen berühren und ertasten. Blinde und sehbehinderte Menschen können so die Materialien und Formensprache der ägyptischen Kunst nachvollziehen.
Natürlich sind alle Objekte auch in Tastschrift beschildert.
Dank der geringen Tischhöhe können auch Kinder gut zugreifen und das Alte Ägypten erspüren. Die Tische sind mit Rollstühlen unterfahrbar.
Individuell angelegte Führungen
Doch das Team des Ägyptischen Museums hat sich weit über das Erwartbare hinaus Gedanken gemacht. „Ein Museum für alle“ bedeutet für Sylvia Schoske und Roxane Bicker: Jeder Mensch kann die altägyptische Kunst nicht nur auf eigene Faust entdecken, sondern sie auch im Rahmen einer Führung erleben, die auf seine Bedürfnisse zugeschnitten ist. So entstand u. a. eine Führung für Menschen mit psychischen Erkrankungen. „Hier geht es weniger darum, Wissen rüberzubringen“, meint Sylvia Schoske, „sondern ein positives, schönes Erlebnis zu schaffen.“ Roxane Bicker setzt dabei auf Fingerspitzengefühl und jahrelange Erfahrung. „Für Menschen mit einer psychischen Erkrankung ist es oft ein Erlebnis und ein Erfolg, nach draußen zu gehen, unter Menschen zu kommen, etwas gemeinsam zu machen. Die Führung `Altägypten kompakt´ wird immer wieder z. B. von Selbsthilfegruppen gebucht.“
Gemeinsam mit dem Fachdienst taubblinde Menschen hat Roxane Bicker eine Führung für taubblinde Menschen organisiert. „Bei Veranstaltungen wie diesen sind manchmal mehr Begleitpersonen dabei als Betroffene“, sagt Bicker. „Um keine finanziellen Barrieren aufzubauen, bieten wir Führungen für Behindertengruppen grundsätzlich kostenfrei an; nur der Eintritt muss bezahlt werden.“
Das Signet „Bayern barrierefrei“ macht das Engagement des Ägyptischen Museums künftig auf den ersten Blick sichtbar. Bayerns Sozialstaatssekretär Johannes Hintersberger überreichte es Ende Februar 2016 an Museumsdirektorin Dr. Sylvia Schoske.
Besonders beeindruckt zeigte sich Johannes Hintersberger beim Rundgang vom Raum „Ägypten erfassen“.
„Dieses Angebot ist nicht nur für blinde und sehbehinderte Menschen attraktiv“, meinte der Staatssekretär. „Wir alle genießen es doch, wenn wir Kunst mal nicht nur anschauen, sondern auch erspüren dürfen. Das ist Barrierefreiheit im besten Sinne, denn sie bringt Menschen mit und ohne Behinderung bei einem gemeinsamen Erlebnis zusammen.“ Von den rollstuhlgerechten Maßen der Präsentationstische überzeugte sich Hintersberger selbst im Leihrollstuhl des Hauses.
Auch das taktile Leitsystem, das blinde Menschen mit ihrem Langstock ertasten können, nutze allen Besucherinnen und Besuchern, fand Staatssekretär Johannes Hintersberger. „Diese Leiste gibt ja quasi die Ideallinie durch die Ausstellung vor: Wer ihr folgt, findet zum Wesentlichen.“
Zusammenarbeit mit inklusiver Schulklasse
Früher wandelte man mit einem Audio-Guide durch die Sammlung, heute greift man zum Multimedia-Gerät mit Kopfhörern und Bildschirm. Die Beiträge in Lautsprache und Gebärdensprache entwickelte das Museumsteam in Zusammenarbeit mit gehörlosen, hörgeschädigten und hörenden Schülerinnen und Schülern des Münchner Gisela-Gymnasiums. Mit diesem Projekt löste Sylvia Schoske gleich zwei Herausforderungen. Einen barrierefreien Guide zu produzieren – und Jugendliche fürs Alte Ägypten zu erwärmen. „16-, 17-Jährige sind am schwierigsten ins Museum zu kriegen. Wir konnten sie verblüffen mit der Frage, was an Ägypten heute noch aktuell ist. Da kam eine Menge zusammen, von der Kosmetik bis zum Bierbrauen. Auch das Beamtentum wurde im Alten Ägypten erfunden. Und der `Oscar´ in der Filmbranche ist eine altägyptische Figur.“ Im Projekt mit den Jugendlichen entstanden ein Gebärdensprachvideo, Erklärungen in Lautsprache und ein E-Book.
Gemeinsam mit gehörlosen, hörbehinderten und hörenden Jugendlichen hat das Ägyptische Museum Beiträge für einen Multimedia-Guide u. a. in Gebärdensprache erarbeitet. Hier testen Schülerinnen und Schüler das Ergebnis im Museum.
Barrierefrei heißt auch: nicht anstrengend
Wie in der Zusammenarbeit ergänzen Sylvia Schoske und Roxane Bicker einander auch im Gespräch. „Ein zu anstrengendes Angebot ist auch eine Barriere. Deshalb haben wir eine Führung, die nur eine Dreiviertelstunde dauert“, erzählt Schoske und lächelt schon. Bicker lacht: „Aber auch die meisten älteren Leute wollen die lange Führung.“ Um Barrieren zu überwinden, hilft mitunter Begeisterung auf beiden Seiten.
Und wie entfacht man Begeisterung? Der Nachwuchs ist im Ägyptischen Museum ein wichtiges Thema. „Wir haben verschiedene Angebote für Kinder und Familien. Das erfolgreichste ist eine Führung für Familien am Wochenende – danach arbeiten Kinder und Eltern gemeinsam in unserer Werkstatt.“ Ein Renner ist auch eine Führung zu Halloween. Um 18 Uhr starten ganze Familien, gruselig kostümiert und mit Taschenlampen ausgerüstet, zur Tour durchs grabesdunkle Museum. Man darf vermuten, dass nicht nur die Kleinen das Lernerlebnis mit köstlichem Schauder genießen.
Beleuchtung oder Inszenierung?
Barrierefreiheit im Museum: Das ist auch ein ständiges Abwägen. Manche Sehbehinderung erlaubt ein Betrachten von Kunstwerken nur in stark ausgeleuchteten Räumen. „Aber ein Museum ist auch Inszenierung“, findet Museumspädagogin Roxane Bicker. „Wir können nicht alle Objekte gleich hell ausleuchten. Architektur, Objekte und Ausstellung sind ein Gesamtkonzept.“ Sylvia Schoske nickt entschieden. „Es geht auch darum, ein Erlebnis zu schaffen, Ästhetik und visuelle Effekte.“ Sie nahm in Kauf, dass ihr Haus nur als teilweise barrierefrei für blinde und sehbehinderte Menschen gilt. „Die Menschen kommen trotzdem.“ Die Mund-zu-Mund-Propaganda zufriedener Besucherinnen und Besucher ist hier noch wertvoller als ein Zertifikat.
Wie war das eigentlich damals? Behinderung im Alten Ägypten
Komfortabler und entspannter als im Ägyptischen Museum kann man sich einen Ausflug in die Antike kaum vorstellen. Doch wie hielten es die alten Ägypter mit Behinderung und Barrieren? Sylvia Schoske: „Die Darstellung von Krankheit, Behinderung und Alter war weitgehend tabu. Wissen Sie, wer der berühmteste Mensch mit Behinderung war? Der Pharao Tutenchamun! Untersuchungen seiner Mumie haben gezeigt, dass er ein beschädigtes Bein hatte. In einigen wenigen Abbildungen sieht man ihn sitzend beim Bogenschießen oder stehend auf einen Stab gestützt.“
Linktipps
Zur Website: Ägyptisches Museum München
Infos zur Barrierefreiheit im Ägyptischen Museum und Buchung
Wer wäre Ministerpräsident im Alten Ägypten? In welcher Haltung wurden Generäle dargestellt? War Bier wirklich Zahlungsmittel? Und welche Gemeinsamkeiten haben Hieroglyphen und die Deutsche Gebärdensprache? Unterhaltsame Antworten gibt ein kostenloses E-Book, das im Schulprojekt entstand:
Glossar
Inklusion und Barrierefreiheit
Inklusion heißt, dass Menschen mit Behinderung ihr Leben nicht mehr an vorhandene Strukturen anpassen müssen, sondern dass die Gesellschaft Strukturen schafft, die es jedem Menschen ermöglichen, selbstbestimmt und selbstständig an allen Bereichen des Lebens teilzuhaben.
Barrierefreiheit ist eine notwendige Bedingung für Inklusion. Je mehr Barrieren wir abbauen, umso einfacher können Menschen mit Behinderung sich informieren und austauschen, lernen, arbeiten, mobil sein – und unsere Gesellschaft mitgestalten.
TIPP:
Auf der Website des Bayerischen Sozialministeriums mehr erfahren über Inklusion in Bayern
Induktive Höranlage
Eine technische Lösung, um Sprache, Musik oder Geräusche drahtlos auf Hörgeräte und Cochlea-Implantate zu übertragen. Eingesetzt wird das Verfahren z. B. in Schule und Studium, bei Veranstaltungen, Gottesdiensten oder Theateraufführungen. Die Anlage besteht aus einem Mikrofon (oder einer anderen Signalquelle), einem Verstärker und einer Induktionsschleife. Der Vorteil: Umgebungs- und Echogeräusche werden ausgeblendet, Töne kommen in klarer Qualität beim Empfänger an. Menschen, die ein Hörgerät tragen, erkennen das Angebot an einem Hinweisschild.
Punktschrift (u. a. Brailleschrift)
Eine Schrift, die Buchstaben in einem Punktesystem darstellt. Die Punkte werden nicht aufs Papier gedruckt, sondern so eingeprägt, dass blinde Menschen sie ertasten können. Die heute verbreitete Punktschrift wurde im 19. Jahrhundert von Louis Braille entwickelt. Braille war selbst blind; sein Schriftsystem passte er perfekt auf die Bedürfnisse blinder Menschen an. Jeder Buchstabe wird durch eine Kombination von maximal sechs Punkten dargestellt. Sie werden in zwei Spalten mit je drei Punkten angeordnet.
Cochlea-Implantat, kurz: CI
Ein Cochlea-Implantat ist eine Hörprothese. Sie wird in einer Operation hinter dem Ohr eingesetzt. Das Übertragungsgerät („Sprachprozessor“) setzt der hörgeschädigte Mensch wie ein Hörgerät ein. Dieses Gerät wandelt alle Geräusche in elektrische Signale um und leitet sie weiter ins Implantat. Dort werden sie entschlüsselt und in die Hörschnecke („Cochlea“) übertragen.
Cochlea-Implantate eignen sich für hochgradig schwerhörige und gehörlose Menschen in jedem Alter. Sie kommen in Frage, wenn ein Hörgerät nicht hilft. Das CI erschließt nicht sofort die Welt des Hörens; CI-versorgte Menschen müssen intensiv üben, das Implantat muss in der Anfangsphase auch häufig individuell nachgeregelt werden.